In so einer Großstadt ist man erst dann zuhause, wenn man seinen Arzt, seinen Metzger oder seinen Bäcker gefunden hat. Dem bleibt man dann auch treu, wenn man von einem Bezirk in den anderen umgezogen ist, und ein Besuch des jeweils besten gefundenen Dienstleisters eine Menge Zeit und die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Anspruch nimmt.
Anders verhält sich das mit dem Optiker des Vertrauens. Jedenfalls, wenn man so blind ist wie ich. Die richtige Messung der Fehlsichtigkeit erfolgt am besten, wenn vorher 12 Stunden lang weder Brille noch Kontaktlinsen getragen werden. Da entweicht einem schon ein Seufzer der Erleichterung, dass der Optiker nur eine knappe Viertelstunde Fußweite entfernt ist. Etwas erschwert wird der Weg dorthin allein durch die Tatsache, dass etliche Nebenstraßen und unsicheres Kopfsteinpflaster zu überwinden sind. Ganz zu schweigen von anderen Verkehrsteilnehmern, die entweder nur schemenhaft oder gar zu spät erfasst werden.
Bei einem derartigen Ausfall eines Sinnes bleibt nur, sich auf andere zu verlassen. Der Hörsinn beispielsweise, kann in begrenztem Maß den Sehsinn ersetzen. In einer Großstadt überlagern sich für den ungeschulten Hörer sämtliche Geräusche, so dass noch nicht einmal die extra für Sehbehinderte eingerichtete Warnfunktion an der Ampel zu orten ist. Auch fallen etliche Geräusche stärker ins Gewicht: Autos, ganz klar, aber auch Vogelgezwitscher und das Schreien der Kinder im Kita-Garten.
Während die Umgebung nur sehr verschwommen zu erkennen ist, selektiert das Gehör offenbar nur bekannte Geräusche heraus. Ein Hund, der, unentdeckt vom seitlichen Gesichtsfeld, wie wildgeworden anfängt zu kläffen, bringt das fehlsichtige Wortschnittchen an den Rand des Herzinfarkts. Überhaupt erscheint die Großstadt als unbekannter, bedrohlicher Ort. Überall Tretminen. Ein Glück, dass der Optiker des Vertrauens das Leid zu mindern weiß: "Ihre Augen sind nur minimal schlechter geworden. Von Minus 14 auf Minus 17 ist kein Beinbruch mehr."
Wenn ich demnächst in einer anderen Stadt in einem anderen Bundesland leben werde, muss ich mir wohl dort meinen Optiker neu suchen. Aber nicht, bevor ich mich dort nicht blind zurecht finde.
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Sechs Spritzen, zwei Zahnfüllungen und etliche Blutdruckschwankungen später die Erkenntnis: Ich bin eine Memme. Mein Zahnarzt ist ein leidensfähiger Mann. Seine Arzthelferin ein Engel.
Trotzdem wäre ich sehr dankbar, wenn die forschenden Pharmaunternehmen eine Kurzanästhesie entwickeln könnten, die einen vollständig von allen Geräuschen und anderen Sinneseindrücken (es zieht! doch, ich brauch noch ne dritte Spritze für den Zahn, ganz sicher!) wegdriften lässt. Dank im Voraus.
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Manchmal gerate ich in einen Strudel der mitmenschlichen Aversion, dem ich nichts entgegen zu setzen habe. Die zurzeit in Berlin weilende Freundin behauptet, ich sei eine temporäre Menschenhasserin. Auf wen ich im Moment gar nicht kann:
+++ Wichtigtuer, die mit einem scheinbar interessanten Thema beginnen, aber dann umgehend in einen Erfahrungsbericht schliddern, in dem dann totsicher irgendwelche Promis auftauchen.
+++ Kryptiker. Und bloggende Kryptiker. Die besonders. Und dann noch ganz besonders die 'hihi'-Blogger.
+++ Kollegen, deren Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom nur noch übertroffen wird von einer chronischen Schweißdrüseninsuffizienz.
+++ Kinderwagenschieber und -innen.
+++ Mopsbesitzer.
+++ Im-Kino-die-Füße-gegen-den-Vordersitz-Stemmer. (Nochmal, und I kill ya.)
+++ Doo-Schreiber. Ich dich auch, doo.f.
+++ Menschen, deren Leben aus nichts anderem zu bestehen scheint, sich selbst zu bespiegeln. Ergo: Blogger.
+++ Homophobe.
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Schwerin liegt auf dem Weg nach Philadelphia.
In gleichmäßigen Abständen erschallt das ‚Padong, Padong’ der Autobahn-Asphaltplatten. Die raureifüberzogene Landschaft zieht an mir vorüber. Dann und wann liegen die verlassenen Gebäude einer LPG wie Inseln in den weiten Meeren der winterlichen Felder. Der Himmel ist silbergraufarben, und die Sonne lugt zwischen Hochnebelfelder hervor. Es ist ein Januartag im Jahr 1991, halb acht Uhr morgens, und einzig zwei Tassen starken Kaffees aus der Thermoskanne halten mich wach. Ich bin auf dem Weg nach Schwerin, wo ich für die Wirtschaftskanzlei Grundbucheinsichten machen muss. Zwei Flurstücke sind es, mit einem Haus aus den zwanziger Jahren. Ein Seegrundstück, soviel weiß die vermutliche Eigentümerin, denn das haben ihr die Eltern erzählt.
Mrs Frenkel, geborene Mendelsohn, hat einen starken amerikanischen Akzent, aber sie wählt die Worte in der lange vergessenen Muttersprache sorgfältig als wir telefonieren: „Miss Wortschnittchen, es würde mich so sehr freuen, wenn Sie mir einige Fotos schicken könnten. Ich habe nur wenige Bilder von meinen Eltern, denn wir haben damals nur einen Koffer mitnehmen können.“ Damals, das war zu Zeiten des Naziregimes, und nach den Nürnberger Rassegesetzen befand sich die gesamte Familie Mendelsohn in einer sehr unsicheren Situation. Vater Mendelsohn, ein wohlhabender Anwalt mit einer großzügigen Stadtwohnung in Berlin und einem Landhaus am See in der Nähe von Schwerin, durfte seinen Beruf nicht mehr ausüben, die Einnahmen schwanden. Er traf eine Entscheidung, die ihm, seiner Frau und der fünfzehnjährigen Irene, der späteren Mrs Frenkel, das Leben retten sollte. Mit einem Koffer, in den nur wenige persönliche Andenken passen sollten, reisten sie über viele Wege in die USA aus. Haus, Wohnung und sämtlicher Hausrat sowie viele Freunde blieben zurück in Deutschland. Die meisten würden sie nie wiedersehen.
Schwerin taucht auf, das Schloss ist eine Trutzburg, Bollwerk gegen alle Einflüsse von außen, aber trotzdem repräsentativ und elegant. Nur die Moritzburg bei Dresden schafft mit ihrer Ebenmäßigkeit ein ähnliches Bild romantisierender Burgschlösser. Das Grundbuchamt ist deutlich weniger spektakulär untergebracht. In den grauen Fluren riecht es wie immer nach Amts- und sonstigem Schimmel, die Mitarbeiter sind farblos und meistens unfreundlich, in Ost wie in West.
Ich gebe Einsichtsersuchen und Vollmacht ab und klappe den tragbaren Kopierer auf. Keine fünf Minuten später kommt die Grundbuchbeamtin damit zurück: „Wir können das Flurstück gar nicht finden. Gucken Sie mal die Postleitzahl an. Das muss irgendwo in der Nähe von Berlin liegen.“ Ich gucke und tatsächlich!, ich habe mich in der Gegend geirrt. Ein Blick auf die eilig herbeigebrachte Landkarte beweist: Schwerin liegt in der Nähe von Philadelphia. Philadelphia ist ein Nachbarort von Neu Boston. Und alle drei Orte liegen in Brandenburg, in der seenreichen Umgebung Berlins. Na, toll.
Es ist mittlerweile halb elf, zu spät, um noch in das für Schwerin (Brandenburg) zuständige Grundbuchamt zu fahren und dort Einsicht zu nehmen. Aber Fotos kann ich ja machen, denke ich. Also mache ich mich auf den Weg von Schwerin nach Schwerin.
Die Wintersonne bricht harte, lange Schatten, als ich mittags am Schweriner See ankomme. Das Haus von Mrs Frenkels Eltern ist grau, ein typisches DDR-Grau von zu vielen Braunkohleöfen und schwacher Pigmentierung der selten zu erhaltenden Fassadenfarbe. Aber es liegt an einem schilfbestandenen Seeufer und hat einen schönen, altmodischen Wintergarten. Ich schleiche auf dem Grundstück herum und fotografiere, bis mich der derzeitige Hausbewohner entdeckt und schreit: „Jehn se von meim Grundstück! Se ham hier nüscht ze suchen!“ Ich habe alle Fotos im Kasten und diskutieren will ich nicht, bevor ich im Grundbuchamt die tatsächlichen Besitzverhältnisse herausgefunden habe.
Zwei Wochen später ruft Mrs Frenkel an. „Miss Wortschnittchen, vielen Dank für die Fotos. Das sieht alles genauso aus wie damals! Ich komme dann nächsten Monat aus Boston und sehe es mir selbst an. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten.“ Ich sage zu. Wann kommt man schon einmal in die Verlegenheit, eine Bostonerin über Neu Boston und Philadelphia nach Schwerin zu bringen? Weltreisen wie Zeitreisen, denke ich, fangen manchmal mit Ortsnamen an.
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„Bei mir geht überhaupt nichts mehr, seit der Himmel jeden Morgen Deine Augenfarbe trägt.“
Heute ist ein Tag, um Element of Crime zu hören.
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Nach einem guten Kaffee verzeiht man sogar den Eltern.
(Oscar Wilde)
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Fahren Sie nach Leipzig. Es lohnt sich. Leipzig ist das neue Barcelona.
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Die abendliche Modenschau mit dem Inhalt des Kleiderschranks ergibt:
+++ Ich hatte schon immer einen etwas anderen Geschmack.
+++ Zwei Kleider werde ich nie mehr tragen können. Es sei denn, es geschieht ein Wunder. (Mir blutet das Herz! Vintage! Die schönsten Modellkleider meiner Mutter aus den späten Sechzigern!)
+++ Polkadot-Bleistiftröcke mit Rüschen am Saum kommen bestimmt wieder.
+++ Nochmal Polkadot: Seide, auf den Leib geschneidert in Hoi An, Vietnam. Love it. Werde es morgen Abend tragen.
+++ Insgesamt sechs Etuikleider, drei davon schwarz, davon eines, das Franzi auch hat. Ob's ihr noch passt?
+++ Ein Abenddirndl meiner Großmutter. In das Mörderdekolletee bin ich jetzt reingewachsen.
+++ Was zum Teufel hatte ich mit dem silbernen Paillettentop vor? Jeanne d'Arc für Arme spielen?
+++ Das Verlobungskleid passt immer noch. Nach fünfzehn Jahren.
+++ Das Hochzeitskleid hängt im Schrank meiner Mutter. Nur einmal getragen, 1968. Sweet Sixties.
+++ Eine Konfektionsgröße nur. Bitte, das muss doch ohne Schmerzen möglich sein.
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Drei Spritzen waren nötig! Drei! Da, wo normalerweise eine genügt hätte, führten heute alle Nervenenden zusammen. Zahnarzt, irritiert: "Sie brauchen doch sonst nicht so viel." Ich vertrage halt mehr als früher, Doktor.
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In Zeiten der Berlinale-Hysterie überfällt mich gelegentlich eine leise Nostalgie. Wenn die Stars und Sternchen so über den roten Teppich laufen, den Fotografen immer über die Schulter zulächelnd posieren, einen Fuß graziös abgestellt, das Spielbein leicht angewinkelt. Hinterher liest man dann von wilden Partys an skurrilen Orten, wer mit wem, warum und weshalb, Dinge, die ein Klatschreporter mit links erfährt und dokumentiert. Schlafen können wir auch noch, wenn wir tot sind.
Damals war es ein Spiel, ein wilder Sport, mit den Großen um Aufmerksamkeit zu buhlen. Wir bekamen die Information: da ist eine Party, das ist der Ansprechpartner, manchmal war sogar ein Scan oder ein Foto der Einladung dabei. Dann warfen wir uns in Partykompatible Klamotten, dem Anlass angemessen und der zu spielenden Rolle. Der Adrenalinkick kam beim Anblick der roten Teppiche, der Türsteher, der Fotografen und wurde noch stärker, denn wir wussten. Wir haben keine Einladung.
Einige von uns hatten das Glück, in eben jener Agentur zu arbeiten, der die Organisation der Events oblag. So kannten wir zumindest ansatzweise Notausgänge, Anzahl der Türsteher, Ansprechpartner für die Gästeliste ("Wieso stehe ich nicht darauf? Ich habe mit Frau XYZ gesprochen, die mir Einlass zugesagt hat, obwohl ich die Einladung verbummelt habe."). Manchmal klappte es, manchmal nicht. Dann schützte man einen dringenden Anruf auf dem Handy vor und zog sich langsam auf die Straße zurück.
Oder man benutzte den Küchenaufzug. Im Abendkleid ging es - die Verwirrte spielend, huch, wo bin ich denn hier gelandet - durch die geschäftigen Köche, bis man schließlich am Eingang zum VIP-Bereich landete. Dort nahm man dann am Nebentisch von Cloodia Schiffer Platz, die mit ihrem damaligen Verlobten Tim Jeffries plauderte, prostete einer schon damals stets übel gelaunten Franziska van Almsick zu und delektierte sich an Champagner und Schweinemedaillons. Tim Jeffries zwinkerte mir zu, als ich den Träger meines schwarzen Abendkleides wieder an seinen Platz schob. Ich zwinkerte zurück. Er hatte schöne, schmale Lippen und wahnsinnig blaue Augen.
Später dann wollte man sich zum gemeinen Partyvolk gesellen. Die Ausgänge der VIP-Bereiche sind meistens so gestaltet, dass hier noch einmal ein Defilee für die Fotografen möglich ist. Vor uns gingen Cloodia und Wolfgang Joop, grelles Blitzlichtgewitter. Sie lächelten, Jacketkronen blinkten mit Brillis um die Wette. Hektische Reporter schrieen Fragen, Mikrophone wankten bedenklich über den Köpfen von Cloodia und Wolfgang. Tim Jeffries hielt sich abseits und schaute gelangweilt. Ich glaube, er fand seine Verlobte schon damals blöd. Zu frolleinhaft. Dann gingen die Kameras aus.
Wir schritten unbehelligt und unbemerkt durch die Normalpartygäste. Wie leicht wäre es gewesen, einen Partysanenkrieg zu beginnen. Ich hätte doch mit Tim Jeffries knutschen sollen. Dann wären die Kameras und Blitzlichter angeblieben.
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Ich laufe Heute im Windows-Mode. Langsam hochfahren. Schnell abstürzen. Dazwischen Fehlermeldungen.
Ich lass mich mal neu booten.
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