Dämonen.

"Komm", sagt sie und greift nach meinem gepackten Köfferchen. Wir gehen über das mondbeschiene Firmengelände. Von irgendwoher ruft eine rollige Katze mit heiserer Stimme ihren Galan herbei.
Laut waren auch die Stimmen der Streitenden. So laut, so nicht enden wollend, dass die Nachbarin die Polizei rief. Der Polizist ist auch unser Verkehrserzieher, er streicht mir über den Kopf. Er ruft sie an, sie antwortet, dass sie in ein paar Minuten da sei, ungeachtet der späten Stunde.
Am nächsten Morgen macht sie uns Kakao mit dicker, fetter Sahne und telefoniert viel. "Nein", sagt sie bestimmt in den Hörer, "nein, das kann ich nicht." Während mir der tiefbraune Kakao die Mundwinkel verschmiert und sich mit salzigen Tropfen mischt, kommt der Großvater kurz aus der Firma, um sich sein zweites Frühstück zu holen. "Engelchen, du kannst. Wir können. Sie bleibt", sagt er zur Großmutter.
Viel später, der Großvater hat sich in der Zwischenzeit den Strick genommen, sitzen wir an der Hafenmole und trinken Wein. "Am liebsten würde ich noch zwei Wochen hier bleiben", lächelt sie und weist mit ihrer kleinen, dünnen Hand auf die bunte Szenerie. "Du kannst doch", sage ich und nehme einen Schluck von dem teuren Roten, den ich mir so nicht hätte leisten können. Genauso wenig wie die Reise. "So als Rentnerin hast du doch viel Zeit", füge ich hinzu. Sie verschluckt sich, hustet, wie so oft in letzter Zeit. "Ach, mein Goldisch, ich komme doch lieber wieder mit zurück. So viel Zeit hat man als Rentner doch nicht."
Wie wenig Zeit uns blieb. Heute Nacht kam sie zu Besuch, saß auf meinem Bett und lächelte mich an. Manche Dämonen sieht man gern wieder.

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Stipendium.

Mein Bruder, der halbe, hat sein Abitur bestanden. "... mit Eins minus! Er bekommt jetzt ein Stipendium von [Freigiebige Instituion einfügen], damit kann er sein Studium voll finanzieren", sagt unser gemeinsamer Erzeuger. "Du warst ziemlich teuer", fügt er hinzu.

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Familienfeste.

Vorbei sind sie, die Zeiten, in denen es jährlich wenigstens eines dieser Feste gab, zu denen die gesamte buckelige Verwandtschaft anreiste, um fürstlich zu tafeln, bereitwillig die berühmten Perlen und Saphire oder doch wenigstens die goldenen Manschettenknöpfe zu tragen, es musste ja keiner wissen, dass der Juwelier des Vertrauens in einer heimlichen Aktion die SS-Runenzeichen aus der Oberfläche tilgte und nunmehr zwei glattpolierte, unschuldige Verschlüsse fürs edelleinerne Hemd zur Verfügung standen. Und alle kamen zusammen, um nicht zuletzt einer allen gemeinen Leidenschaft zu frönen: dem Klatsch und Tratsch, den nur eine Familie produzieren kann, die über mehr als zehn Mitglieder verfügt.

Die bösen Nattern des missgünstigen Klatsches, übers Jahr gehegt und gepflegt in einem Terrarium aus Rüschengardinen und Sofadeckchen gleich wie die wertvollen Geschichtenblumen, deren Duft von großen, nie ausgelebten Passionen kündet, alle, alle werden zwischen Ochsenschwanzsuppe und Sachertorte auf den Tisch gebracht und geschluckt und verdaut.

Wie hätten wir sonst von der verhängnisvollen Verbindung zwischen Onkel und Nichte erfahren? Oder mit atemloser Spannung der Beweisführung in einem Fast-Mord gelauscht, den der Sohn am Vater verübt haben soll – mittels eines außer Rand und Band geratenen Gabelstaplers? Manchmal brauchten die nicht unmittelbar Betroffenen viele gute Schnäpse, um den Gehalt der Geschichten genau zu erkennen. Dann flossen, gleichsam mit jedem Stamperl, wieder neue Geschichten aus den Mündern, um sich am Ende des Festes in einem Strom zu vereinigen, der stets ein fruchtbares Land des Familiensinns hinterließ. Bis zum nächsten Fest.

Aber, ach!, sie sind versiegt, die Ströme der alten Geschichten, denn auch diese Familie wie aus einem Buch gibt es nicht mehr. Nur noch eine letzte Chronistin, deren Gedächtnis langsam auslöscht, was ihr begierig lauschendes kindliches Ohr über Jahre hinweg aufgenommen. Man sollte es wirklich aufschreiben, sagt sie manchmal und denkt dann, wie schade es ist, dass es niemanden mehr gibt, dem sie diese Geschichten erzählen könnte.

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Erdbeermarmelade.



Ihre Erdbeermarmelade war geradezu legendär: Ein Schuss bester schottischer Whiskey durfte nie fehlen. Weshalb ich als Urenkelin auch erst spät, fast zu spät, in den Genuss der gelierten Früchte kam.
"Ich bin geboren am ersten Tag des letzten Jahres im vergangenen Jahrhundert. Na, wann war das?" Sie stellte mir gern Rechenaufgaben. "Man muss dem Kopf etwas zum Denken geben. Das kommt nicht von allein", wie sie süffisant lächelnd mit einem Blick auf den ihrer Ansicht nach etwas weichlichen Schwiegersohn hinzufügte. Als Chefin eines mittelständischen Unternehmens wollte sie nur fähige Mitarbeiter, was sie ihre Angestellten durchaus gern in einer dezent-hochnäsigen Gutsbesitzerinnenart wissen ließ.

Manchmal verschwand sie wochenlang. Dann kamen bunte Postkarten mit Mittelmeerszenen, Almrausch und Edelweiß bedruckt und einmal sogar eine aus Indien: Farbenprächtig bemalte Elefanten stolzierten majestätisch in Reih und Glied, auf dem Rücken die Maharadschas in ihren Prunksänften. "Mir geht es gut. Das Taj Mahal ist wunderbar. Morgen geht es weiter nach Varanasi." Da war sie 75 und noch gut in Schuss, weshalb sie auch mit dem Reisebus via Damaskus und Kabul den Weg nach Indien auf sich nahm. Auf dem Rückweg musste man sie allerdings aus Kabul ausfliegen - ein kleiner Kreislaufzusammenbruch machte die Heimreise per Luft ratsam.

Die Postkarte aus Indien hing lange gerahmt hinter dem Schreibtisch im Büro meiner Großmutter. Sie reiste gern und brachte ebenso gern den schlimmsten Kitsch und Trödel mit. Kein Souvenirhändler, der nicht heute noch ein Loblied auf diese seltsame Alte singt, die ihm und seiner Familie über Wochen hinweg die Ernährung sicherte. Man kann sagen, dass ich ein Gutteil meiner Kindheit in Shetland-Pullovern, Schottenröcken und Dirndln verbrachte - dank der Reisewut meiner Urgroßmutter.

Als ich sie das letzte Mal sah, lag sie angebunden an das Bettgitter im Pflegeheim. Ein dünner Speichelfaden hing an ihren kaum noch vorhandenen Lippen, einen zahnlosen Mund umrahmend. Ich erzählte ein wenig von der Schule und dass das Abi nahte. Sehen konnte sie mich nicht mehr, aber sie drückte meine Hand und lächelte auf einer Gesichtshälfte. Bald darauf wechselte die Pflegeleitung und keine Patienten wurden mehr angebunden. Dafür gab es Pillen. Ich machte Abi und ging fort. Ihr Grab habe ich nie besucht.

Vor einigen Tagen habe ich Erdbeeren gekauft, sicherlich zu früh im Jahr und natürlich aus spanischen Treibhauskulturen, sie hätte mir die Ohren langgezogen. "Alles Frische ist Saisonware", sagte sie immer und war sich nie zu schade, einen braungefleckten Apfel vom Boden aufzulesen wenn wir im Garten spazierten. "Der ist noch gut für Kompott." Ich habe Marmelade aus den Erdbeeren gemacht. Mit einem Schuss Whiskey.

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Blauäugig.



Wortschnittchen, 1975. Noch blauäugiger als jetzt.

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Passwort.



Mein Vater, 1973. Sie nannten ihn Django.

(Was man nicht alles findet, wenn man mal seinen Krempel aufräumt.)

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Detailtragik.

Bei manchen Menschen scheint es, als hätte ihr Leben eine besondere Tragik, als wäre ihnen nur ein kurzer Augenblick Glück vergönnt, bevor sie verlöschen.

Er erbte reich. Sein Vater, DER Notar und Rechtsanwalt in der mittelgroßen Stadt an einem mittelbreiten Fluss, war an seinem Schreibtisch im Büro verstorben. Herzinfarkt. Fünf Schwestern betrauerten den rührigen Mann. Sein Sohn seufzte erleichtert auf und beendete noch am selben Tag sein ungeliebtes Jurastudium. Nunmehr in einer sehr bequemen finanziellen Lage, baute und entwickelte er fleißig Modellflugzeuge, seiner zweiten Leidenschaft neben Schäferhunden mit Namen wie Harro oder Hasso.

Er war immer schon ein wenig seltsam. Seine Cousine erzählte, dass er das Maß für Normen und Realität mitunter verliere, so dass sie einmal seinen besten Freund aus einer Schlinge befreien musste, die er um dessen Hals gezogen hatte. In der irrigen Annahme, Pferd und Cowboy zu spielen sei bis ins letzte Detail möglich. Auch brach er häufig in Tränen aus, von einem Augenblick zum anderen, weshalb er in einem abgeschiedenen Trakt der zweistöckigen Villa lebte, inmitten seiner juristischen Bücher und ungefähr zweihundert Modellflugzeugen. Medikamente machten ihn glücklich und sehr ruhig.

Nach dem Tod des Notars lernte er eine Frau kennen, zwanzig Jahre älter als er, so mütterlich wie seine eigene Mutter nicht sein konnte, denn sie saß ja in der Nervenheilanstalt. Schizophrenie, man behandelte so etwas früher mit Elektroschocks, aber das half nichts, es wurde immer schlimmer, da behielt man sie gleich dort.

Sie zogen nach Norddeutschland in ein schönes Haus hinter dem Deich, drei Schäferhunde bewachten das große Grundstück. Eines Tages kam der Sohn der Lebensgefährtin zu Besuch. Er erschoss den Mann, die drei Hunde und die Mutter auch. Bei der Vernehmung soll er gesagt haben, der Mann hätte ihm die Mutter gestohlen.

Letztens kam ein Brief von der Friedhofsverwaltung. Man würde sich freuen, wenn der Grabstein erneuert würde. Unbekannte hätten ihn umgestürzt, dabei zerbrochen und 'Mörder' darauf gesprüht.

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Benamsung.

Haben Sie, werte Leser, Ihre Eltern mit Vornamen gerufen?
Ich fand das in den Siebzigern mal richtig revolutionär und wollte das auch zuhause einführen. Meine Mutter sah mich nachdenklich an: "Was hast du jetzt wieder gelesen?" Es war die Zeitschrift Eltern.

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Koscher.

Der Verkäufer nimmt gelassen ein großes Stück Fleisch aus der Auslage, wickelt es ein und summt dabei ein Lied. Der Grund, weshalb ich in diesem Laden mit dem plakativen Davidsstern kaufe, liegt im fehlenden Summen einer anderen Spezies, die sich sonst grünschillernd auf allerlei fleischigen Oberflächen des afrikanischen Marktes tummelt.

Dort, im Schatten der Wohntürme des 19. Arondissements, lebt die ganze Farb- und Geruchsvielfalt Afrikas auf einigen hundert Quadratmetern wackeliger Betonplatten auf. Bunte Tücher wickeln sich um voluminöse Ghanaerinnen, blaue Leinstoffe verstecken Maghrebien-Köpfe, rote Schirme über den Ständen werfen Schatten in der sengenden Pariser Sommersonne und mittendrin ein blasses Mädel auf der Suche nach den Zutaten für das Abendessen des hart arbeitenden Liebsten. "Mach doch mal Roti (Rollbraten)", hatte er mich aufgefordert, und da er die kleine Wohnung finanzierte, wollte auch ich mein studentisch mageres Scherflein zum Gelingen dieser Beziehung beitragen.

Die Zeit drängt, also schnell nach der Arbeit im Theater alle Zutaten, Zucchini, Auberginen und Pilze, auf dem Markt kaufen, ein schönes Roti, das ich dann in unserer Neuerwerbung, einem Grillöfchen, in der 1,5 Quadratmeter großen Küche langsam knusprig brate.

Der Liebste freut sich: "Riecht gut. Bist eine gute Köchin, so für eine Deutsche." Ja ja, der Erbfeind, wenn der mal lobt, sollte man schon danbar sein. Auch ich freue mich, stecke mir genüsslich eine Gabel Fleisch in den Mund - und stutze. Der Liebste stutzt ebenfalls. Dieser Geschmack... irgendwie anders, süßlicher. Das wird doch wohl nicht...? - "Was hast du da gekauft?", fragt er. Ich bin ratlos, suche hektisch nach der Tüte. "Mangez cacher" (Esst koscher) steht darauf. Der Bon liegt noch bei: Pferdefleisch.

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Witwenglück #5.

Nachdem Frau Modeste anregte, ein wenig aus dem familiären Nähkästchen zu plaudern, hier die letzte Folge der Serie "Witwenglück".

In meiner Familie gibt es einen Stand, der noch mehr geschätzt wird als der des Verheiratetseins: das Witwentum. Nie waren die meisten weiblichen Mitglieder glücklicher als nach der obligatorischen Trauerzeit. Die manchmal schon mit dem Versenken des Sarges endete.

Nach den Großtantchen Mimi, Finny, Katinka und Gusti kommen wir nun zu meiner Großmutter.

Ja, und da war noch Christine. Eine überaus eigensinnige Frau, die sich nicht so schnell dem Schicksal beugen wollte.
Der Ehemann, ein schlaksiger Brillenträger mit feingeschnittenem Mund und guten Karriereaussichten in der hessischen Verwaltung, und sie sehen auf dem Hochzeitsfoto sehr glücklich aus. Es sollte eines der seltenen, gemeinsamen Bilder sein, denn er wurde kurz nach der Hochzeit als einer der ersten Soldaten eingezogen. Nur wenige Monate später erhielt meine Großmutter keine Feldpostbriefe mehr. Dann kam die Mitteilung, dass er „im Kampf für die Ehre des Deutschen Reiches“ gefallen sei. Irgendwo in Russland. Zurück blieb sie.
Die Bombenteppiche bedeckten die Städte rund um den Main. Auch das Haus meiner Großmutter versank in Schutt und Asche. Eine Fügung des Schicksals: Sie war nicht zuhause. Ohne Haus, ohne Arbeit – wohin nur?


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