AltersKultur.

Beruflich habe ich ja etwa einmal im Monat mit Horden von Senioren zu tun. Nicht, dass Sie erschrecken müssten, nein, es handelt sich um überaus freundlich gesinnte Rentner. Sie reisen in Bussen an, um Kulturveranstaltungen zu besuchen und man muss sich halt kümmern. Das ist eigentlich nicht besonders kompliziert, denn früher, so erzählen sie mir bisweilen, früher sei es noch viel komplizierter gewesen ins Theater oder in ein Konzert zu kommen. Zumal nicht immer ein verfügbares Transportmittel - wir sprechen hier von Individualverkehr mit 18 Jahren Liefer-Wartezeit - vorhanden war. Also zogen die Damen und Herren ihre Stiefel und dicken Jacken an, verpackten die feinen Schuhe in einen Beutel und stiegen auf den LPG-Lastwagen, um ins meistens doch weit entfernte Theater zu gelangen. Aber dafür sei das Ticket ja viel günstiger gewesen...

Heute holt der Bus sie an der gewohnten Haltestelle ab, und am Bus ist die Bezeichnung ihrer Tour angebracht, damit es keine Vewechslungen mit der Gruppe aus der Nachbarortschaft geben kann. Er spuckt sie am Theater aus, wo sie meistens noch ein Stückchen Kuchen oder Torte (bitte mit Sahne, ganz wichtig!) und eine Tasse Kaffee zu sich nehmen, bevor sie sich ganz ungehemmt dem Kulturgenuss hingeben können.

Gemeckert wird eher selten bei einer guten Zwei-Hundertschaft unter meiner Organisation. Meistens fragen sie nach einer Ersatzkarte ("Ich finde sie einfach nicht mehr, ich bin schon ganz verzweifelt!") oder wünschen sich für die kommende Saison mehr Oper, Operette, Theater... - was gerade eben nicht im Abonnement vorhanden ist. Auch wünschen sie weniger Wiederholungen, mehr Wiederholungen und vor Allem: keinen neumodischen Kram! Für zumindest einige Wünsche bekommt man eine Lösung hin, andere hingegen liegen in der Hand vieler weiterer Menschen, die auch nicht immer können wie sie wollen.

Gelobt wird eigentlich selten. Auch die Senioren haben nach 22 Jahren Kapitalismus den Konsum ganz gut gelernt. Da freut es einen natürlich ganz besonders, wenn eine nicht mehr ganz so rüstige Dame auf mich zukommt und sich mit Tränen in den Augen bedankt, wie schön es doch sei, dass alles für sie organisiert werde und man ihr für ihre letzten Monate so viel Freude bereiten würde. Moment! Ihre letzten Monate? Genau. Die Dame erwartet den Tod. Sie wisse noch nicht genau, ob sie die ganze Spielzeit durchhalten würde, aber sie werde es versuchen. Denn sie liebe Theater so sehr, es sei immer wieder etwas Neues in den Stücken zu entdecken.

Ich schiebe ihr den Rollator in eine andere Ecke, damit sie nach der Vorstellung leichter das Haus verlassen kann. Hoffentlich kann ich im Alter auch noch so viel Leidenschaft für Kultur aufbringen. Es fällt mir jetzt schon manchmal schwer genug. Man sollte sich öfter aufraffen, denke ich, und freue mich auf den Theaterbesuch in der kommenden Woche.

... link (1 Kommentar)   ... comment


KulturTauchbad.

Wenn Sie es einrichten könnten, werte Leser, dann reisen Sie doch demnächst einmal nach Krakau! Diese zauberhafte Stadt im historischen Galizien und heutigen Südpolen ist eine charmante Mischung aus Vilnius, Bologna und Berlin-Friedrichshain. Nicht nur, dass dort eine ganze Menge junger Menschen aus aller Welt studieren und feiern und es überhaupt kein Problem sein sollte, jeden Abend in einer anderen Bar eine ziemlich nette Live-Musik zu hören (je-den A-bend, man schläft hier nicht), nein, in Krakau kann man auch hervorragend Kultur bestaunen und essen. Genau: Kultur essen!

Ich beherzige bei meinen (und des Gentlemans) Reisen immer den alten chinesischen Grundsatz: "Man kann alles essen, was vier Beine hat, es sei denn, es ist ein Tisch, alles essen, was fliegt, es sei denn, es ist ein Flugzeug..." Undsoweiter, undsoähnlich. Essen ist für mich der Schlüssel zu einer fremden Kultur. Wie sorgsam mit den Grundmaterialien umgegangen wird, sagt doch schon eine Menge aus über die Landeskultur.

So servierte man uns in unserem ersten Restaurant Pierogi mit Pilzen und Kraut, Zwiebelsuppe und einen Appetizer, von dem ich nur vermuten kann, dass das was mit Hüttenkäse und / oder Schmalz war, aber auf jeden Fall etwas, in dem ich dereinst gern einbalsamiert würde. (Restaurant KogelMogel, ul. Sienna)

Den zweiten Morgen verschliefen wir, auch, weil wir sehr früh am vorvergangenen Tag aufstehen mussten, um den Flug nach Krakau zu bekommen. Das Hotelfrühstück im Saski (ul. Slawkowska, liegt superzentral, Free Wlan, aber man wünscht dem verstaubten Charme des Hotels doch einmal eine ordnende Hand und einen guten Klempner) geht nur bis 10:30, also mussten wir ein vernünftiges Frühstückscafé finden. In Krakau eher kein Problem, also wanderten wir nur einige Schritte ins Camelot (ul. Tomasza), wo wir in einem stilvollen Ambiente versorgt wurden.

Natürlich stopften wir noch etliche Kringel (obwarzanki) oder Baguettes (zapiekanki) in uns hinein, denn so ein Tag mit Besuch im ehemaligen jüdischen Stadtteil Kazimierz fordert Tribut. Aber wenigstens hatten wir abends schon wieder Hunger und stillten diesen auf sehr angenehme Weise im Kawaleria (ul. Golebia) mit Wildschweinfilet in Pflaumensauce mit Knödeln und Schweinelenden in Moosbeerensauce. Damit wir nicht verhungerten, gab's vorher noch Zwiebelsuppe und kleine Käsequiches. Den Abschluss machten Käsequarkcreme und geminzte Schokomousse. Begleitet wurde das Essen von einem rauchigen Roten, der sich angenehm im Hintergrund hielt.

Ich bin ja keine versierte Foodbloggerin wie Anke Gröner oder die Kaltmamsell - das scheitert schon daran, dass mir jedes technische Verständnis für die Zubereitung fehlt -, aber das "große Fressen" in Krakau verdaue ich gerade, also werden Sie, werte Leser, leider mit den verbalen Ausscheidungen meines Kurzbesuchs konfrontiert. Fürs Schöne, für Supertexte und Fotos, gehen Sie bitte einmal bei den genannten Damen oder Stevan Paul vorbei - hinterher ist man sehr hungrig, kann aber auf ein paar leckere Rezepte zurückgreifen.

Den Montag hielten wir mit einem leckeren Eis und einer heißen "Wawel"-Schokolade durch, natürlich stilecht auf der Terrasse in der Königsburg mit Blick über Podgorze genossen und dann noch bei sanftem Wind und angenehmen, sonnigen 22 Grad. Die Krypta der Kirche, in der neben Chopin und anderen wichtigen Dichtern und Komponisten, den polnischen Königen auch der in Smolensk abgestürzte Lech Kaczynski samt Frau bestattet ist, haben wir uns recht schnell ebenso wie die Burg an sich gespart. Dort trieben sich die Touristenmassen wie ein Lindwurm hindurch, samt schlechter Gerüche.

Gute Gerüche indes kann man im Chimera (ul. sw Anny) schnuppern. Oben Salatbar und Vegi-Restaurant, gibt's im plüschigen Keller auch Fleischiges - eine Küchen-Chimäre, eben. Der Gentleman putzte die Lammkeule mit Rosmarinkartoffeln und Rotebeete-Schnitzeln nach einem sehr erdigen Barschtsch tapfer weg. Die Bedienung hatte vorher extra noch gefragt, ob im 450 Gramm nicht doch zu viel seien. Weit gefehlt! Mein Kaninchen in Sauerrahmsauce war ebenfalls auf den Punkt gegart, aber mir hätte die Keule neben dem Rückenstück gereicht.

Am letzten Abend wollten wir nach einem Besuch in der sehr sehenswerten Ausstellung in der Emaille-Fabrik von Oskar Schindler unbedingt noch einmal in Kazimierz essen, in einem der jüdischen Restaurants. Wir fanden mit viel Glück im "Once upon a Time in Kazimierz" einen Platz. Das Restaurant ist dunkel, gemütlich und erstreckt sich über drei nebeneinander liegende ehemalige Ladengeschäfte. Wir nahmen Tschalynt (Brei aus Linsen, Gemüse und noch mehr Uffjefechtem) und Ente in Cranberry-Sauce, die beide recht ordentlich schmeckten. Aber den krönenden Abschluss gab's dann mit einer weiteren Variante eines Quark-Käsecremekuchens mit Rosinen und Feigen - eine extrem leckere Geschichte.

Alles in allem ist Krakau eine runde, quirlige, elegante und kulinarisch vielfältig ausgestattete Stadt. Unser Kulturtauchbad hat uns bestimmt einige Kilo mehr beschert - jedes davon war einen Besuch Krakaus wert!

... link (10 Kommentare)   ... comment


AltersGehwehchen.

Der gute Don rekapitulierte neulich über die Veränderungen, welche das Altern mit sich bringt. Also nicht nur die körperlichen, sondern eben auch die emotionalen. Über die körperlichen Malaisen mag ich hier gar nicht schreiben, die sind ja hinlänglich bekannt und treten in der ein oder anderen Form bei jedem von uns auf. Obwohl, ich könnte natürlich über meine Hüfte...

Nein. Da ist mir die Seele näher und man sagt ja, ein junger Geist in einem alten Körper sei immer noch besser als umgekehrt. Aber wie jung bin ich wirklich noch? Bin ich noch so neugierig und offen wie vor zehn Jahren, als ich das erste Mal allein durch Asien reiste, wie vor zwanzig Jahren, als mir die Welt noch so groß schien, dass deren Eroberung nur eine Frage der Zeit sein konnte? Bin ich bereit, alles noch einmal über den Haufen zu werfen, um endlich einen Traum zu (er)leben, den andere in Anbetracht meiner beruflichen und ehelichen Stellung durchaus als "hirnrissig" bezeichnen würden?

Diesen Fragen werde ich mich wohl demnächst stellen. Einen Vorteil des Alterns nehme ich jedenfalls gern mit: Ich gebe nicht mehr so viel Geld aus und lasse an dessen Mangel einen Traum scheitern.

Edit: Da fällt mir ein, dass ich den Don nun auch schon acht Jahre kenne. Und er sieht immer noch genauso aus wie damals.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Greta.

Als wir vor einigen Jahren an die Familienplanung gingen (leider vergebens), flachsten wir gelegentlich über Namen für den Nachwuchs. In meinem Kopf spukten kleine Katharinas, Alexandras, Helenas, Avas und viele weitere mehr herum. Auch den Namen Greta hatten wir in der Auswahl. Eine kleine Greta, das würde ein starkes, eigensinniges, kreatives Mädchen, so dachte ich mir, eine kleine Pippi Langstrumpf, manchmal schwer von den wichtigen Dingen zu überzeugen, aber immer aufgeschlossen. Ein Wildfang. Ein schöner Name.

Auch darum fing das Blog von Stephan und Steffi über ihre krebskranke Tochter Greta sofort meine Aufmerksamkeit. Die beiden beschreiben über einen Zeitraum von fünf Jahren, wie ihre Tochter Greta und die Familie mit der Diagnose Krebs lebt, alle Höhen und Tiefen inklusive. Ich bin eigentlich kein Fan solch intimer Berichte, da ja auch die drei Töchter allesamt im Bild erkennbar sind. Aber Stephan und Steffi offenbaren - auch mit dem Einverständnis der Töchter -, dass es immer um die Familie als Ganzes geht und schaffen einen sehr konzentrierten Blick auf die Krankheit und ihre Auswirkungen. Danke dafür.

Am Mittwoch ist Greta gestorben. Wer mag, kann den im Blog aufgeführten Initiativen Eltern krebskranker Kinder spenden.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Besitz.

Wer die Aktion #609060 bei Instagram verfolgt hat, konnte sehen, wie sich ganz normale Frauen täglich präsentierten, kurz bevor sie aus dem Haus gehen. Auch ich machte fleißig mit und empfand es als eine sehr schöne und positive Aktion. So viele unterschiedliche Stile, originell kombinierte Teile und einiges, sehr schickes Selbstgeschneidertes - wäre ich doch nur handwerklich begabt!

Was mir auch noch auffiel: Wir haben für fast jeden Tag ein anderes Outfit. Kaum eine der Frauen bei #609060 trägt ein Kleidungsstück mehrfach in der Woche. Wenn ein Kleid wiederholt auftaucht, dann wird es mit schicken Accessoires aufgepeppt, so dass es ganz anders aussieht.

In den 30er Jahren hatte die durchschnittliche Frau ein bis zwei Kostüme, ein Kleid "für gut", Blusen mit Wechselkragen und einige Pullover. Männer hatten im Schnitt zwei Anzüge.

Als meine Großmutter 1990 starb, hatte sie vier Kleider, einige Pullover, ein paar Röcke und Hosen sowie einen Winter- und einen Sommermantel. Sie war immer sehr schick angezogen, kombinierte leuchende Ketten und Tücher zu schlichten Pullovern und Sweatern. Ihr Schrank war genau einen Meter zwanzig breit und einen Meter fünfundsiebzig hoch. Er beinhaltet heute die Taschensammlung meiner Mutter.

Mein Schrank ist zwei Meter fünfzig breit und über zwei Meter hoch. In ihm finden meine 22 Kleider, 13 Röcke, 10 Blazer, sechs Anzüge, 12 Blusen, drei Gesellschafts- und zwei Ballkleider, mein Sommer- und meine zwei Wintermäntel, meine Lederjacken, Übergangs- und Kuscheljacken, meine Sport- und Nachtbekleidung (kein Synonym) sowie eine unübersehbare Anzahl von T-Shirts, Sweatshirts, Trägerhemdchen, Unterwäsche für einen Monat, ungefähr die Hälfte meiner Schuhe und einige Taschen Platz. Kurz: Er ist gerammelt vollgestopft. Mir geht es sehr gut. Ich müsste - ein wenig Pflege und handarbeitliches Geschick sowie stabile Körpermaße vorausgesetzt - nie wieder einkaufen gehen. Und trotzdem stehe ich oft vor dem Schrank und jammere dem Gentleman die Ohren voll, ich hätte nichts anzuziehen.

Vielleicht ist die Aktion #609060 auch ein Anlass, den Wert der Kleidung und des Besitzes zu schätzen. Denn: Uns geht es verdammt gut.

... link (0 Kommentare)   ... comment


6.

Der beste Reisekamerad. Ein unbestechlicher Kritiker. Versierter Weineinkäufer. Adlerauge. Absurdistanbewohner. Und viele weitere Eigenschaften mehr. Seit sechs Jahren Bereicherung meines Lebens. Und nicht mehr wegzudenken. Meiner.

... link (7 Kommentare)   ... comment


#609060.

Das erste Mal, als ich mich mit meinem eigenen Körper befasste und ihn als „nicht normal“ empfand, war in den frühen neunziger Jahren. Ich war gerade von meinem Frankreich-Aufenthalt zurückgekehrt. Nach Studienhalbjahr, anschließendem Praktikum, arbeiten und ein bisschen Herumgammeln hatte ich nämlich nicht nur viel Sprachpraxis sondern auch etliche Kilogramm mehr auf den Rippen. Ich betrachtete mich im Spiegel und war frustriert. Die aktuelle Mode der Technoära bevorzugte eindeutig den androgynen Typus. Mein damaliger Freund auch. Wieder Single, fraß ich meinen Frust über den untreuen Ex in mich hinein, vernachlässigte aber eine gesunde Nahrungsaufnahme. Ich verlor die in Frankreich angefutterten Kurven, trug Techno-Klamotten und entsprach ein wenig mehr dem angesagten androgynen Typus.

Bis ich eines späten Abends in einer Bar ohnmächtig wurde. Ich wachte auf dem Boden der Bar auf, sah die Plastikrosen an der Decke und dachte nur daran, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Nach kurzer Zeit stand ich wieder, fiel aber kurze Zeit später erneut um. Mein Begleiter trug mich hinaus und legte mich auf die Motorhaube eines Autos, von der ich langsam herunterrutschte. Alle Kraft hatte mich verlassen. Er rief einen Krankenwagen, der mich ins nahegelegene Krankenhaus brachte. Die Notärztin fragte nach Drogen (nein), Alkohol (nein, ich hätte fahren müssen) und gab mir aufbauende Spritzen, bevor sie mich fragte: „Was haben Sie heute gegessen?“

Mir fiel nicht sofort ein, worauf sie hinaus wollte und meinte, es sei sicher keine Lebensmittelvergiftung. Sie antwortete: „Ich meinte eher, wie viel haben Sie heute gegessen.“

Einen Suppenteller voll mit Frostie-Cornflakes und Milch.

Ich wachte sprichwörtlich wieder auf. Seitdem hatte ich mein Gewicht immer gehalten, mit Kleidergröße 38. Bis ich vor einigen Jahren Medikamente nehmen musste und mehr Kurven bekam als ich jemals zuvor hatte. Ich schwitzte schneller, kam öfter aus der Puste und musste die Hälfte meines Kleiderschranks aussortieren. Ich fühlte mich wie eine Sago-Made. Diesen Körper wollte ich nicht, dieses Leben wollte ich nicht. Mit mehr Bewegung und Verzicht auf Frühstück (die Mahlzeit, welche ich ohnehin nur mit äußerstem Widerwillen zu mir nehme) habe ich wieder eine gute 40/42, mehr oder weniger passend zum Alter, also.

Als Journelle bei Instagram mit der #609060-Aktion begann, war ich begeistert: Menschen wie du und ich fotografieren sich selbst, so wie sie täglich aus dem Haus gehen oder dort bleiben. Normale Menschen in Oberbekleidung, also, oder wie Das Nuf schreibt „Die Gaußsche Normalverteilung“, wie sie sich in der Figur und im Modegeschmack niederschlägt. Die Damen – und wenigen Herren – sehen allesamt normal aus. Mal dicker, mal dünner, mal modisch orientiert, mal leger. Da ich ja jeden Mist mitmache, fing ich an, den Gentleman zu nerven, er möge in Ermangelung eines Ganzkörperspiegels morgens ein Foto von mir schießen. Mir ging es nach kurzer Zeit ähnlich wie Anne Schüssler: Ich freute mich über das positive Feedback. Ich fing an, mir mehr Gedanken über schöne Kleidung zu machen, die wirklich zu mir und meinen Kurven passt. Ich trug wieder mehr Ketten und habe Spaß daran zu sehen, wie andere ebenfalls mit Accessoires spielen. Und ich finde, das, genau das, macht diese Aktion schön: Sie bewirkt eine kleine Änderung. Ich mag meinen Körper wieder ein bisschen mehr, weil er normal ist.

... link (5 Kommentare)   ... comment


HundsTage.

Was die Hundstage gießen, muss die Traube büßen. (Bauernregel)

Alle jammern. Sie stöhnen, es sei einfach zu heiß. Egal, ob es 25, 29 oder 34 Grad Celsius sind, es ist einfach zu heiß. Vielleicht sind es die genetischen Überreste aus Sizilien (Urgroßmutter) oder der Hugenotten (annodunnemal), aber mir ist es gerade recht. Bei 27 Grad fühle ich mich aufblühen, gehe angenehm erwärmt durch sonnendurchglühte Straßen und freue mich auf die langsam kühlende Abendbrise auf dem Balkon. Auch bei weit über 30 Grad werfe ich lieber den Ventilator an als mir eine krank machende Klima(erwärmungs)anlage anzuschalten.

Das geht so lange gut, bis die relative Luftfeuchtigkeit die 60 % überschreitet. Dann, so der geliebte Gentleman, würde ich zu einer tickenden Zeitbombe. Grantig sei ich den ganzen Tag, so wie es sonst nur vor neun Uhr morgens vorkäme. Jähzornige Anfälle bekomme ich, sobald mir ein anderer Verkehrsteilnehmer ein μ zu langsam fährt. Kollegiale Flüchtigkeiten lassen mich innerlich platzen. Wer nicht grüßt, wird gehasst, wer grüßt, ebenso. Kurz: Es ist einfach zu heiß und ich leide wie ein Hund.

Ich hoffe, dass der Wein dieses Jahr gut wird. Der soll ja auch keine feuchte Hitze vertragen. Ach ja, übrigens: Bao Bao ist gestorben.

... link (0 Kommentare)   ... comment


VerloreneKinder.

Eine Kollegin führt derzeit Projektwochen mit Kindern und Jugendlichen durch, theaterpädagogische Workshops mit Kitas, Grundschulen und Schulen - und in der vergangenen Woche mit einigen Heimkindern.

Zwischen 4 und 11 Jahren waren die Mädchen und Jungen und schon allein ihre Einführung auf dem Büroflur war ein Happening. Wehe, wenn sie losgelassen! Laut, enthemmt, entgrenzt gingen sie auf die Kolleginnen und Kollegen zu, fragten einem Löcher in den Bauch, tatschten alles an, was sie interessierte und nahmen in den Pausen zwischen den kleinen Proben und Bewegungs- und Konzentrationsübungen intensiv Anteil an unserem Arbeitsleben.

Was nicht immer leicht war, denn lange Texte Korrektur lesen geht nun mal nicht, wenn einem ein verhaltensauffälliger Sechsjähriger am Bein klebt und un-be-dingt wissen will, was das für ein Ding an meiner Pinwand sei. Ein Notenschlüssel, antworte ich und gehe selbstverständlich davon aus, dass er weiß, was das ist. Blödsinn, ich weiß, aber in meiner Familie galt: Je früher, desto virtuoser. Konnte ja keiner ahnen, dass ich musikalisch so enttäuschen würde. Er lässt meine Erklärung jedenfalls nicht einfach gelten und so finde ich mich unversehens in einer Diskussion mit dem Kleinen wieder, in der es um Töne und Trommeln und Lautstärke geht, denn laut ist er. Jedes Wort ein Trompetenstoß, atemlos, als hätte ihm noch nie einer zugehört.

Und das scheint es bei allen Kindern der Gruppe zu sein. Ihnen hat niemand zugehört in ihrer eigenen Familie, niemand auf ihre Bedürfnisse geachtet. Sie gieren nach Aufmerksamkeit, nach körperlicher und seelischer Zuwendung. Die Kollegen sind strapaziert, halten aber durch. Der kleine Musikfan muss jedenfalls kurz nach der Diskussion auf die Toilette. Eine Kollegin geht mit ihm und muss dabei bleiben, denn: Er habe Angst allein und sie würde doch ganz bestimmt nicht die Türe verschließen und das Licht ausmachen wie Mama und Papa mit dem Schrank?

Da schluckt man doch ganz schön, vor allem, wenn man selbst gern eigene Kinder gehabt hätte. Wie kommen Eltern dazu, ihre Kinder schlechter zu behandeln als ihren Kampfhund? Es gibt doch Verhütungsmittel! Aber so Manche oder Mancher scheint das Hirn schon im Teeniealter in die Gosse gekippt zu haben.

Am Ende des Workshops sitzen jedenfalls deutlich mehr Kollegen als Angehörige im Seminarraum und klatschen den kleinen Theatermäusen zu, die gerade ihren ersten großen Auftritt mit einem selbstentwickelten Stück hatten. Die Eltern, welche rechtzeitig vor Ort waren, stehen hinterher gelangweilt zusammen und unterhalten sich über die Ungerechtigkeit der Behörden, die ihnen den Nachwuchs weggenommen hätten.

Während jener Nachwuchs verzweifelt versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erheischen, sich von mir Herzchen mit "Mama" auf die Wangen malen lässt ("Mit Glitter, ja? Und ganz groß Mama draufschreiben!") oder Geschichten von der Projektwoche in die desinteressierten Ohren erzählt. Der Gipfel ist, als eine Mutter ihre Tochter von meiner Decke ziehen will, während ich sie schminke und sie anherrscht, sie solle jetzt kommen, weil sie "keine Zeit für so einen Scheiß hätte". Ich habe sie daraufhin angeschnauzt, dass sie doch vielleicht fünf Minuten hätte, weil es ihrer Tochter Freude machen würde, sich in eine kleine Fee mit Goldglitzer auf den Wangen zu verwandeln.

Manchmal verfluche ich diese Welt, in der einige Menschen Kinder haben, die sie nicht verdienen, eine Welt, in der eine kleine verlorene Generation heranwächst, die keine Liebe erfährt. Und in der andere keine Kinder bekommen können. Verloren.

... link (2 Kommentare)   ... comment


My younger self.

... link (2 Kommentare)   ... comment