DerWechsel.

Ein Wechsel ist ein Wertpapier, das eine unbedingte Zahlungsanweisung des Ausstellers an den Bezogenen enthält, an ihn oder einen Dritten (Begünstiger, Remittent) zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort eine bestimmte Geldsumme zu zahlen.

Damals trug ich noch Perlenkette, ein geerbtes Seidentuch von Hermès und abwechselnd einen grauen und einen schwarzen Hosenanzug. Dreimal die Woche klackerten meine hohen Absätze auf feinstem Carrara-Marmorboden in den zweiten Stock, wo ich am Ende eines langen Flurs im sogenannten Dokumentarszimmer einen kleinen Schreibtisch hatte. Ích beklebte neu erworbene Bücher nach dem patentierten System der Bibliotheksnummerierung, ordnete Nachlieferungen in Gesetzessammlungen ein, nahm Grundbuch- und Katastereinsichten in den Ämtern der neuen Bundesländer und durfte dann und wann kleinere, juristische Gutachten schreiben.

Das ging etwa einen Monat lang, bis man sich meiner treuen und zuverlässigen Dienste gewahr wurde und mir eine besonders wichtige Aufgabe anvertraute: Kurierfahren. Damals, das war das erste Jahr nach der Wende, und während das Ärgernis der fehlenden Telefonverbindungen von Berlin (West) nach Berlin (Hauptstadt der DDR) nach und nach beseitigt wurde, litten die Asphaltverbindungen noch lange Mangel. Die zwischenstaatliche Post war noch nicht in der Lage, Briefe über eine Luftlinie von einem Kilometer schneller als in zehn Tagen zu befördern.

Später nannte man es das goldene Zeitalter der Fahrradkuriere. Nur, es gab gewisse kostbare Frachten, die man lieber überbezahlten Studentinnen mit klapprigen Renault 5 anvertraute, um sie der Treuhandanstalt, der Schwesterkanzlei im Ostteil der Stadt oder anderen Dienststellen zukommen zu lassen. So fuhr ich, mir immer neue Nadelöhre zwischen Todesstreifenbrache und beginnendem Bauboom suchend, von West nach Ost und wieder zurück. Immer mit dem Ehrgeiz, so schnell wie möglich wieder an meinem kleinen Schreibtisch im Dokumentarzimmer zu sitzen und meine Hosenanzüge nicht zu verknittern.

Eines Tages holte ich eine Lieferung am Alexanderplatz ab. Ich bahnte mir den Weg an einer kleinen Demonstantengruppe vorbei, die immerzu schrien "Freiheit statt Kapitalismus" und wurde am Eingang von den Wachmännern streng auf meine Legitimation geprüft. Die dickliche, ältere Empfangssekretärin mit mahagonirotem Kurzhaarschnitt drückte mir einen Stapel Unterlagen in den Arm: "Tut mir leid, aber die Unterlagen konnten wir heute leider nicht verpacken. Wir hatten keine Umschläge mehr. Passen Sie gut darauf auf, dass sie nicht schmutzig werden." Ich nickte ihr zu, wir kannten uns ja schon von vielen Besuchen. Ich unterschrieb die Bestätigung der Übernahme und machte mich auf den Weg.

Meine Güte, was für ein Höllenverkehr! Ich suchte mir Lücken, rümpfte die Nase über den Gestank der Trabis, Wartburgs und Ofenheizungen und drehte genervt am Radioknopf herum. Plötzlich hörte ich quietschende Bremsen, trat selber die Pedale durch und sah, wie einige Meter vor mir ein Fahrradkurier neben einem stark verbeulten Trabant auf der Seite lag. Der Fahrer des Trabi kniete schon und versuchte, ihm aufzuhelfen. Papiere lagen zerstreut herum und wurden langsam verweht. Der Fahrradkurier rappelte sich auf, schrie dem Trabifahrer etwas zu, und gemeinsam versuchten sie, die Papiere wieder einzusammeln.

Der Stapel Papiere, den ich in der Behörde abgeholt hatte, war durch die Bremsung vom Beifahrersitz heruntergerutscht. Mist!, dachte ich. Hoffentlich sind die Papiere nicht schmutzig geworden. Hätte ich bloß eine Tüte mitgenommen! Um mich herum stand alles, Autos hupten, und ich nutzte die Gelegenheit, den Stapel Papiere zu ordnen.

Listen, fein säuberlich mit alten, elektrischen Schreibmaschinen getippt, durchgepauste Papiere, vergilbte Kopien und Betriebspläne. Und dann hielt ich ein Dokument in der Hand, das zum Schutz in Pergamentpapier eingewickelt war. Das Pergament war eingerissen, ich konnte die Zahl sehen, die in der Mitte eingedruckt war. Eine Milliarde D-Mark. Vorsichtig wickelte ich den Wechsel wieder ein, verstaute alles im Fußraum und setzte meinen Weg in Richtung meines kleinen Schreibtischs fort.

Ich hielt einmal eine Milliarde D-Mark in der Hand. So war das damals.

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So war das damals. Das Schöne an Zeiten des Umbruchs (hey, ick hab in der Brunnenstraße in nem besetzten Haus gewohnt und ging noch in den "Eimer" als er noch nicht "Bucket Club" hiess...), das Schöne an Zeiten des Umbruchs ist die Unberechenbarkeit und Skurrilität, die in den kleinsten Dingen lauert. Schade daß sie endlich sind.

Eine Milliarde...unvorstellbar, wieviele Hosenanzüge und Hermestücher Du hättest kaufen können :-)

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Und wie viele Perlenkettchen ich mir davon hätte kaufen können... :)

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Mit dem Fahrrad in die Schweiz weiter radeln wäre aber schon eine Option gewesen ;-)

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Eben: Das goldene Zeitalter der Fahrradkuriere... Allein meine Unsportlichkeit hat mich davon abgehalten.

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Ich würde mir auch so gern eine 1-Zimmer-Wohnung leisten davon.

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In München würde das gerade dafür reichen.

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