"Ich dachte daran, was Fred am Vortag gesagt hatte, und ich begriff, dass die Lebenden, wenn wir alt genug werden, an irgendeinem Punkt nur noch ein kleiner Teil derer sind, die wir kennen."
Henny und Shanti sind ein ungleiches Paar. Sie, deutsche Jüdin, er, agnostischer Inder. Im Berlin der frühen 30er Jahre treffen sie sich in einem Kreis buntgemischter junger Menschen, machen Ausflüge an den Wannsee, feiern Weihnachten, Chanukka und etliche Partys zusammen, helfen sich bei Staatsexamina und in Behördenangelegenheiten und ahnen noch wenig von den kommenden Ereignissen, die für beide grausame Verluste bereithalten. Sie suchen sich ihre kleinen Parallelwelten, die ab einem gewissen Lebensalter nur noch die Konzentration auf ihre eigene Partnerschaft ermöglichen.
Wie ungewöhnlich diese Verbindung zu ihrer Zeit war, beschreibt der Neffe von Shanti, Vikram Seth, in seiner spannenden Dokumentation "Zwei Leben" (Fischer-Verlag, 9,95 €). Die nicht immer unproblematische Liebe zwischen Henny und Shanti bindet Seth in eine genaue Analyse der jeweiligen Epochen, angefangen vom kolonialen Indien über die Nazizeit bis in die jüngste Gegenwart ein. Was das Buch ebenso interessant wie unerträglich macht, ist das Eintauchen in zwei Leben, mitunter so nah, als wäre Henny die eigene Tante, der man so gern den Verlust ihrer jüdischen Angehörigen mildern würde, und Shanti der Onkel, ein wenig verschroben, ein wenig zu emotional, aber genau dafür heißgeliebt.
"Zwei Leben" behält seine Ausgewogenheit durch die eingewobene Parteilichkeit des Autors, dessen wichtigste Bezugspersonen die beiden lange Zeit waren. So schafft es der Leser, immer wieder durchzuatmen und sich zu sagen: es ist das Leben der anderen. Zwei Leben.
Fazit: Dringende Leseempfehlung!
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