An der Autobahnabfahrt Wolfenbüttel liegen ein zermatschter Fuchs, ein plattgefahrener Vogel und viele kleine Papierfetzchen.
„Was machst du denn? Was soll denn das?“
Ich sehe dem Treiben meiner Mutter irritiert zu. Sie zerreißt ein Blatt Papier in immer kleinere Stücke, öffnet das Autofenster einen Spalt und lässt die Fetzchen in die graue niedersächsische Vorharzlandschaft wehen.
„Das ist wirklich das Letzte, was ich von Irene erwartet hätte!“, schnaubt sie.
Das Letzte sahen wir vor zwei Stunden vor dem Haus meiner Tante Inge. Weißglänzend stand dort der Porsche meines Großvaters. Als wir bei Inge im Wohnzimmer sitzen und Baumkuchen essen – „dafür fahre ich immer noch in die alte Heimat, ist ja auch nicht weit“ -, lenkt meine Mutter schnell das Thema auf den Wagen.
„Wieso hat Hans-Günter den noch nicht verkauft?“
Sie sieht Irene starr in die Augen, während Inge sich am Kaffee verschluckt. Eine bleierne Decke legt sich über das frische Schwesternglück. Irene zündet sich in aller Ruhe eine Zigarette an und antwortet mit gedehnter Stimme: „Wir dachten, dass er mehr wert sei. War er aber nicht. Reiner Schrott. Hans-Günter hat viel Arbeit reinstecken müssen. Und weil der Vati dir schon die Perlen von Lotte vermacht hat, habe ich den Porsche als Anteil behalten.“
„Bist du sicher, dass das Auto Schrott war?“
Manchmal hört sich meine Mutter sehr unangenehm an. Inge rutscht unruhig auf ihrem Sessel hin und her.
„Nun beruhigt euch mal wieder“, sagt sie und wirft die langen, schwarzen Locken nach hinten. Meine Mutter und Irene tragen praktische Kurzhaarfrisuren in blond und dunkelmahagoni. „Irene hat mir ein Gutachten gezeigt, wonach der Wagen noch 2000 Mark wert wäre. Das ist doch in etwa das Äquivalent zu den Perlen.“
„Und ganz ehrlich“, lässt sich Irene vernehmen, „du hättest doch sowieso kein Erbrecht, jedenfalls nicht den vollen Anteil, so wie im Testament beschrieben. Also kommst du mit den Perlen genau hin.“
„Zeit, zu gehen!“ Meine Mutter springt auf.
An der Haustür umarmt Inge meine Mutter. „Ich bin nicht der Meinung von Irene“, sagt sie und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht. „Wir sind alle vom gleichen Stamm und sollten uns vertragen und teilen, was da ist. Hier ist übrigens eine Kopie vom Gutachten.“ Sie drückt meiner Mutter ein Papierblatt in die Hand.
Auf der Rückfahrt studiert meine Mutter das Gutachten: „Das ist doch ein Gefälligkeitsgutachten, da bin ich hundertprozentig sicher. Der hat sich den Porsche unter den Nagel reißen wollen, weil er daheim nichts mehr ist. So einem SEDler gibt keiner mehr einen Job. Hans-Günter ist ein Idiot und Irene eine Intrigantin. Aber egal, ich bin ja sowieso nur das Bankert.“ Sie fängt an, das Papier zu zerreißen. Ich denke darüber nach, warum der gleiche Stamm manchmal so unterschiedliche Früchte hervorbringt. Die einen weich und süß, die andern säuerlich und manche sind innen faulig. Die wirft man dann wohl besser weg.
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Dunkelmahagoni!
Ich werde mir dunkelmahagonine Strähnchen machen lassen... Danke für diese Inspiration!
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Und vielen Dank für den herrlichen Text, Herr Ole.
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