Trümmerfrauen.

Er zündet sich eine Rothändle an und nimmt einen Schluck Wein. "Das sind die letzten Freuden, die sie einem hier noch gönnen", bemerkt er und macht eine alles umfassende Handbewegung: Das mit persönlichen Gegenständen und Möbeln vollgestopfte Zimmer im Altersheim, die grantige Stationsschwester, deren Stentorstimme von Station A im Erdgeschoss bis in das letzte Zimmer von Station C im dritten Stock und höchstwahrscheinlich auch im nahen Österreich zu hören ist. Und das Leben an sich, das ihm nicht mehr viel gönnen wird. Einige Jahre noch, behauptet er störrisch, möchte er der Welt auf die Nerven fallen.

"So kurz nach dem Krieg war es nicht leicht, nicht für mich, nicht für meine Frau und schon gar nicht für deine Großmutter", beginnt er, denn wir haben Fragestunde, wie verabredet. Er malt mit Worten das Bild einer Gesellschaft, die aus den Fugen geriet, deren Grundgerüst beinahe in sich zusammen gefallen war. Einer Gesellschaft, deren Wiederaufbau sich auf die Hände, Schultern und Tatkraft von Frauen stützte, deren Männer im Krieg gefallen, körperlich und/oder seelisch unbrauchbar oder schlicht unwillig waren, sich mit den wesentlichen Dingen des (Über-)Lebens zu befassen.

"Stell dir mal vor: Du bist als körperlich unversehrter, einigermaßen intelligenter und gutaussehender Mann unterwegs und überall sind Frauen, die sich nach so jemandem sehnen", erzählt er. Das klingt mir fast nach einem Männerparadies, sage ich. "Na, ein Paradies kann man Deutschland im Jahr 1946 nicht gerade nennen. Versteh mich nicht falsch: Es war nicht leicht, wir waren alle traumatisiert, auch diejenigen, denen es im Krieg noch gut erging, weil sie, wie deine Großmutter und ihre Schwester, hier in Mittenwald untergekommen sind. Es war klar, dass wir uns alle nach Parties sehnten, Leichtigkeit, einer neuen Welt, weil die alte gerade untergegangen war." Er zieht an der Zigarette, ein langer Glutfaden glimmt auf. Wie zu sich selbst erzählt er mir von der Schönheit der Frauen - "deine Großmutter hatte so ein Strahlen, ein inneres Leuchten, ganz anders als ihre Schwester Mimi, die strahlte zwar auch, war aber eiskalt" -, der längst nicht mehr gefühlten Verpflichtung, die ihn immer wieder zur Familie zog und von dem Tag, als meine Großmutter Besuch von ihrer besten Freundin aus München bekam.

"Da stand sie in der Tür des Rosenstüberl, wir saßen in einer lustigen Runde zusammen, und auf einmal war da diese Frau in einem schwarzen Kleid. Sie ging auf Christine (meine Großmutter) zu und umarmte sie. Da hat sie mir in die Augen geschaut und es hat geschnackelt. Wir wussten: Wir wollen uns."

Dagegen kann man wohl nichts tun, denke ich und frage mich, ob es wohl mir einmal so ergehen wird. Mit meinen 19 Jahren kann ich es mir fast nicht vorstellen. Ich hatte mich schon verliebt, mit H. war ich schon fast vier Jahre zusammen. Aber so richtig "Hals über Kopf"? Nichts für mich, davon war ich fest überzeugt.

Der Großvater drückt die Rothändle entschieden im Aschenbecher aus und fragt, ob ich noch ein Glas Kirschsaft möchte. "Gern", sage ich und hole zwei Gläser aus der Stationsküche. Als ich zurückkomme, ist er eingenickt. Ich wecke ihn nicht, lege ihm nur einen Zettel hin, dass ich Morgen noch einmal kurz vorbeischauen werde, bevor ich fahre.

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