Erdbeermarmelade.



Ihre Erdbeermarmelade war geradezu legendär: Ein Schuss bester schottischer Whiskey durfte nie fehlen. Weshalb ich als Urenkelin auch erst spät, fast zu spät, in den Genuss der gelierten Früchte kam.
"Ich bin geboren am ersten Tag des letzten Jahres im vergangenen Jahrhundert. Na, wann war das?" Sie stellte mir gern Rechenaufgaben. "Man muss dem Kopf etwas zum Denken geben. Das kommt nicht von allein", wie sie süffisant lächelnd mit einem Blick auf den ihrer Ansicht nach etwas weichlichen Schwiegersohn hinzufügte. Als Chefin eines mittelständischen Unternehmens wollte sie nur fähige Mitarbeiter, was sie ihre Angestellten durchaus gern in einer dezent-hochnäsigen Gutsbesitzerinnenart wissen ließ.

Manchmal verschwand sie wochenlang. Dann kamen bunte Postkarten mit Mittelmeerszenen, Almrausch und Edelweiß bedruckt und einmal sogar eine aus Indien: Farbenprächtig bemalte Elefanten stolzierten majestätisch in Reih und Glied, auf dem Rücken die Maharadschas in ihren Prunksänften. "Mir geht es gut. Das Taj Mahal ist wunderbar. Morgen geht es weiter nach Varanasi." Da war sie 75 und noch gut in Schuss, weshalb sie auch mit dem Reisebus via Damaskus und Kabul den Weg nach Indien auf sich nahm. Auf dem Rückweg musste man sie allerdings aus Kabul ausfliegen - ein kleiner Kreislaufzusammenbruch machte die Heimreise per Luft ratsam.

Die Postkarte aus Indien hing lange gerahmt hinter dem Schreibtisch im Büro meiner Großmutter. Sie reiste gern und brachte ebenso gern den schlimmsten Kitsch und Trödel mit. Kein Souvenirhändler, der nicht heute noch ein Loblied auf diese seltsame Alte singt, die ihm und seiner Familie über Wochen hinweg die Ernährung sicherte. Man kann sagen, dass ich ein Gutteil meiner Kindheit in Shetland-Pullovern, Schottenröcken und Dirndln verbrachte - dank der Reisewut meiner Urgroßmutter.

Als ich sie das letzte Mal sah, lag sie angebunden an das Bettgitter im Pflegeheim. Ein dünner Speichelfaden hing an ihren kaum noch vorhandenen Lippen, einen zahnlosen Mund umrahmend. Ich erzählte ein wenig von der Schule und dass das Abi nahte. Sehen konnte sie mich nicht mehr, aber sie drückte meine Hand und lächelte auf einer Gesichtshälfte. Bald darauf wechselte die Pflegeleitung und keine Patienten wurden mehr angebunden. Dafür gab es Pillen. Ich machte Abi und ging fort. Ihr Grab habe ich nie besucht.

Vor einigen Tagen habe ich Erdbeeren gekauft, sicherlich zu früh im Jahr und natürlich aus spanischen Treibhauskulturen, sie hätte mir die Ohren langgezogen. "Alles Frische ist Saisonware", sagte sie immer und war sich nie zu schade, einen braungefleckten Apfel vom Boden aufzulesen wenn wir im Garten spazierten. "Der ist noch gut für Kompott." Ich habe Marmelade aus den Erdbeeren gemacht. Mit einem Schuss Whiskey.

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