Die Zeitung mit den vier Buchstaben lag immer als Klolektüre meines Vaters in der Gästetoilette, die Schlagzeilen groß genug, dass man sie nicht übersehen kann. Auch eine Fünfjährige mit so schlechten Augen, dass sie immer ganz dicht an den Spiegel gehen muss, um die eigene Augenfarbe zu erkennen, kann sie lesen, wenn sie denn schon lesen könnte. Damals fing ich gerade an, Buchstabe um Buchstabe zu entziffern, ich wollte wissen um das Geheimnis der Aussagen meines Vaters wie "diese RAF bringt uns noch alle um" oder das "Prinzessin Anne sieht aus wie ihre Pferde" meiner Mutter. Also begann ich zu lesen.
Ich arbeitete mich über die Tagespolitik vor zu den Themen, die mich schon früh interessierten: Klatsch, Tratsch und Promis. Ja, die Zeitung mit den vier Buchstaben. Immer dabei, immer vor Ort.
Als es an der Haustür Sturm klingelt, steht meine Mutter gerade in der Küche und bereitet Gulasch vor. Zwiebelgeruch breitet sich aus, ich sitze auf der Arbeitsplatte, schlenkere mit den Beinen und erzähle, wie blöd Olli aus der 7a heute wieder war und wie er mich auf dem Nachhauseweg im Bus so geschubst hat, dass der Riemen meines coolen neuen Esprit-Rucksacks gerissen ist.
Zwei Männer stehen vor der Tür, sofort beginnt der eine zu reden, ich bekomme es gar nicht richtig mit, bin in Gedanken noch bei Olli, denn so schlecht finde ich den gar nicht, er hat schöne blaue Augen und hört auch The Cure. Jetzt sitzen sie im Wohnzimmer, der eine Mann hat eine große Kamera vor sich liegen, der andere einen Schreibblock. "Wir können natürlich auch anders an Fotos kommen, aber Sie als Verwandte wollen sicherlich nicht irgendein Foto von der Polizei oder so." Meine Mutter wird ärgerlich, weist mit der Hand in Richtung Ausgang. Zum Abschied wendet sich der eine an mich: "Und wie fandest du deinen Onkel?" "Nett", antworte ich brav, denn nett war er, mein Patenonkel. Jedenfalls zu mir.
Zwei Tage später steht in der großen Zeitung mit den vier Buchstaben, dass sich der Flüchtige der Polizei gestellt habe. Ein Bild meines Onkels ist auch dabei: Er liegt unter einer Plane, neben ihm seine drei ebenfalls erschossenen Schäferhunde und im Hintergrund, ausgestreckt auf den Stufen des Hauses, die tote Lebensgefährtin. Eine Lache Blut quillt unter der Plane hervor und man sieht trotz der schlechten Druckqualität deutlich, dass es schon dunkel geronnen ist. Die Reporter waren spät.
"150 Zeilen bitte bis um zwölf", lautet der Auftrag. Fieberhaft überlege ich, wie ich noch den ein oder anderen O-Ton dazu bekommen kann, vielleicht noch eine Expertenmeinung, Jo Gröbel, ja, der ist immer bereit, seine Ansichten der Weltöffentlichkeit mitzuteilen, und nett ist er auch. Und Fotos! Die hätte ich fast vergessen! Im Archiv ist nichts Verwertbares, vielleicht kann ich ja noch was faken. Geht alles, wenn man will. Die Zeitung mit den vier Buchstaben ist nicht zimperlich. Ich auch nicht und mit dem Instinkt eines Bluthundes will ich den Erfolg UND die Story, um einmal in den Journalistenolymp eintreten zu dürfen. Scheiß auf die Moral, ich bin's: die Reporterin für die Zeitung mit den vier Buchstaben.
Diese dämlichen Hundebesitzer, schimpfe ich innerlich, streife meine Büro-Pumps ab, es war wieder stressig heute, immer neue Kampagnen entwickeln, organisieren, Logistik beachten, PR-Artikel schreiben. Die Schuhe stelle ich auf eine Zeitung, ein wenig vergilbt, ich habe sie eben aus der Papierkiste im Treppenhaus gefischt. Das Titelbild zeigt den ehemaligen Medienkanzler, ein bisschen verschmiert jetzt mit den Hinterlassenschaften der Prenzlauer Berg-Köter. Der hat sich ja auch ganz schön weit aus dem Fenster gelehnt mit der Gazprom-Geschichte. Eine echte Blöd-Story.
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Weit weg vom Tagesgeschäft und den Begegnungen am Rande stand die kleine Truppe vor mir, und ich erkannte bereits während unseres Gesprächs - die tun nicht nur so, nein, die SIND genauso wie ihre Zeitung ...
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