Nettelbecks Trauma.

Berlin-Wedding. Zeitungspapier weht über das Kopfsteinpflaster und bleibt im frischen Taubendreck kleben. Auf den Bänken herrscht um zehn Uhr früh schon reges Treiben. Je nach Fortschritt der Alkoholabhängigkeit haben sich Grüppchen gebildet, die über Billig-Korn und Bier aus dem nahen Plus-Markt bessere Zeiten beschwören.

Ein Paar fällt besonders ins Auge. Gepflegte ältere Leute, die sich immer ein wenig abseits der sozialen Problemfälle halten. Sie, ordentlich geschminkt, mit einem hübschen, braunen Mantel. Er in Lederjacke und Jeans. Beide sehen aus, als hätten sie einen gemächlichen Ruhestand vor sich. Wenn da nicht die Tüte wäre. Eine braune Papiertüte, wie sie in amerikanischen Supermärkten zum Verpacken der Lebensmittel genutzt wird.

Alle zehn Minuten zieht er eine Flasche aus der Tüte, bietet sie seiner Begleiterin an. Sie nimmt zierliche Schlucke und reicht an ihn weiter. Es ist kein Wasser, was sie trinken.
Gegen Mittag, wenn aus den umliegenden Verwaltungsgebäuden Angestellte strömen, um einen schnellen Snack zu holen, sitzen die beiden immer noch da. Ihre Wangen sind ein wenig mehr gerötet, er schwankt auf der Bank.

Der Platz, auf dem sie sitzen heißt Nettelbeckplatz. Joachim Nettelbeck (1738-1824) war Seefahrer, Sklavenhändler, Soldat. Und Branntweinbrenner aus alter Brauerdynastie. Sobald er habe lallen können, wollte er Schiffer werden, so Nettelbeck in seiner Biografie.
Für die, die auf dem nach ihm benannten Platz lallen, ist das letzte Schiff schon abgesoffen.

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