Natürlich habe ich Ausschau gehalten. Zur ohnehin schon nicht ganz geringen Nervosität vor der ersten Lesung meines Lebens kam noch hinzu, dass es unser erstes Wiedersehen nach sechs Monaten gewesen wäre. Dennoch und gerade deswegen, es wäre ein guter, ein öffentlicher, Anlass gewesen sich zu sehen.
So manch erstes Treffen nach einer Trennung gerät zum erneuten emotionalen Desaster. Ich erinnere mich an den großen M., der mir einmal sehr unvermutet in einer Bar über den Weg lief, drei Monate nachdem er mich verlassen hatte - mit dem Satz: "Ich liebe dich nur noch zu etwa 30 Prozent. Das reicht nicht." Er war Ingenieur, das erklärt einiges.
Ein sehr überraschendes Wiedersehen, das mir die Sinne schwinden ließ: Ich fiel in Ohnmacht. Mein Begleiter versuchte mich zu reanimieren, während ich mehrfach aus den gnädigen Tiefen des mentalen Offs auftauchte und wieder in sie verschwand. Der Abend endete im Krankenhaus, mit einer Vitaminspritze und dem guten Rat des Arztes, doch ein bisschen mehr zu essen und auf mich zu achten.
Ganz so dramatisch verlaufen Wiedersehen heute nicht mehr. Man wird älter, abgebrühter oder hat zumindest seine Emotionen in der Öffentlichkeit besser im Griff. Zudem hilft der Zeitablauf, Verletzungen im milden Licht des Verwindens zu betrachten und neue Begleiter tun ebenfalls ihr Übriges dazu, den Gefühlsabstand zu vergrößern.
Das letzte Mal, als ich den Fuchs sah, hielten wir uns im Arm und weinten. Wir konnten beide nicht mehr und noch weniger verstehen, warum aus einem Gefühl, das uns so unvermutet angesprungen, ja, regelrecht überfallen hatte, so dass wir den körperlichen Entzug spürten, wenn wir uns zwei Tage nicht gesehen hatten, dass dieses Gefühl in Zweifeln und Schweigen ertrank. Als ich gehen wollte, hielt er meinen Mantel fest, ganz fest, es war einer dieser geronnenen Momente, die man sein Leben lang nicht vergisst und die mehr Schmerz in sich bergen als man ertragen kann.
Trotzdem und gerade deswegen sollte man sich wieder sehen. Und sei es nur um fest zu stellen, dass es eine schöne Zeit war, man sich aber heute nicht mehr viel zu sagen hat. Oder es könnte auch der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein. Ich pflege mit einigen meiner Ex-Freunde schöne Freundschaften.
Gestern nun hielt ich Ausschau und freute mich über die gekommenen Freunde und über Menschen, die mir hinterher sagten, sie läsen mich gern, ein schönes Kompliment, das anspornt und der Eitelkeit schmeichelt. Wer nicht kam, war er. Lag es daran, dass die Lokalität etwas schwer zu finden war? Oder war der Zettel an der Eingangstür mit dem Hinweis „Lesung - hier entlang“ in der Zwischenzeit fortgeweht?
Nach der Lesung fuhren die Mitstreiter und ich noch durch die Nacht, etwas Essbares zu finden. Als ich das Auto abstellte, bemerkte ich einen kleinen Zettel unter dem Scheibenwischer. Normalerweise hätte ich ihn weggeworfen, denn es sind meistens „Izabella“ oder „Jozef“ aus Polen, die mir so den Kauf meines Autos anbieten. Mittlerweile, der Zustand meines Autos spricht wohl Bände, werden die Zettel weniger.
Er sei viel zu spät gewesen, habe es nicht mehr geschafft, schrieb der Fuchs. Es täte ihm leid.
Diese Nachricht sagt viel aus. Über Nächte, in denen man Ausschau hält. Und über Momente, in denen man vor einem Auto steht, eine Nachricht schreibt. Weil man die Tür nicht öffnen und eintreten wollte. Auch eine Art geronnener Moment.
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Schmerzhafte Augenblicke, wenn sich die alte Knochensäge quer durch den Magen schiebt, alte Gefühle dabei verwirbelnd, angetrieben von Nein, Ja, Warum, Hass und Liebe.
Man sagt dann, durch den Entzug muß man durch.
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