Zeitablauf

"Kinder, wie die Zeit vergeht." - dieser Satz meiner Großmutter klingt mir heute noch in den Ohren. Wie Recht sie hatte, wird mir täglich bewusster. Damals, als Kind, verging die Zeit ungleich langsamer. Der Nachmittag gehörte dem ausgedehnten Spiel, die Ferien zogen sich unübersehbar durch den Sommer. Einzig die Abende, an denen ich länger aufbleiben durfte um "Am laufenden Band" zu gucken, gingen schneller vorbei als mir lieb war.

Seit einigen Jahren fliegen Tage, Wochen und Monate nur so dahin. Daten, Menschen, Fakten - alles kann ich nur mühsam in einen bestimmten Zeitraum einordnen. (Note to myself: Mehr Listen machen!) Ein Tag ist nicht wie der andere, aber sie ähneln sich. Am Montag liegt die Woche wie ein hässlicher, muffelig riechender Flickenteppich vor mir, dienstags habe ich mich schon an den Geruch gewöhnt und die restlichen Tage trampele ich in Überschallgeschwindigkeit auf ihm herum.

Schön, ja, denn so ist das Wochenende eher da. Andererseits: Was bleibt vom Leben? Die paar und dreißig verbleibenden Jahre, die einem die Lebensuhr anzeigt, verrinnen schneller als Sand zwischen den Händen. Es ist nicht der äußere Alterungsprozess, der mich erschreckt. Viel mehr als die paar Fältchen oder weiße Haare stimmt mich nachdenklich, dass Dinge, die früher einzigartig erschienen, unschuldig, ungefiltert, dass diese oft mit dem Gedanken erlebt werden: Hatte ich schon mal, kenne ich, geht vorbei. Das gilt auch für Gefühle. Obwohl mir eines die letzten Monate über treu blieb. - Aber auch das wird verschwinden und vergessen sein.

Am besten, ich entschleunige mal mein Leben. Sonst bin ich eines Tages alt und seufze wie meine Großmutter zum Zivildienstleistenden, der, falls es dann noch Zivildienstleistende geben wird, mich im Rollstuhl durch den Park oder über den Friedhof schiebt: "Kinder, wie die Zeit vergangen ist." Ich werde sehen, wie er seine Augen zum Himmel rollt und denkt, was will die Alte denn, die hat den ganzen Tag nichts zu tun, die hat doch genug Zeit! Und ich werde mir insgeheim sagen: Warte mal ab, mein Lieber, du wirst auch noch dahinter kommen.

Anmerkung: Entschleunigung kann schnell gehen. Zum Beispiel in der Visum-Stelle der indischen Botschaft. Satte zwei Stunden für einen Stempel.

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