Das Versprechen.

So manches Mal wühlt man im eigenen Schicksal, manisch, nach Ansatzpunkten suchend, die einen Schlüssel für die Zukunft beinhalten könnten.

Er sitzt kerzengerade im Ohrensessel, die rechte Hand auf der Lehne. Die Zigarettenspitze zittert ein wenig, Asche sinkt auf den Boden, verwirbelnd. „Sie wollen also meinen Enkel heiraten“, stellt er fest. Ja, nun. Was soll ich sagen? Er will mich heiraten, gefragt hat er mich, als wir beide beschwipst auf einer Düne saßen und den Sonnenuntergang betrachteten. Da kommt man schon einmal auf solche Ideen. „Ja“, sage ich, folgsam, ihm gerade in die Augen sehend, „ja, wir werden heiraten.“
Er bemerkt die immer länger werdende graue Spitze der Zigarette und schnippt sie endlich mit einer eleganten Bewegung in den Aschenbecher. Früher einmal muss er ein beeindruckend schöner Mann gewesen sein: Schmales Gesicht, hohe Wangenknochen, immer noch volles, weißes Haar. Dazu die Kleidung eines Landedelmannes, der er ist.
„Du musst vorher den Baron kennen lernen, meinen Großvater“, hatte Fabien gesagt und hinzugefügt: „Sei nachsichtig mit ihm, er ist ein wenig seltsam mit Deutschen, das ist ein Überbleibsel aus dem Krieg.“
Eines verregneten Herbstwochenendes fuhren wir in einen grünen Vorort von Paris. Fabien wollte mich vorstellen, mich, die Deutsche.

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Fabien hat uns allein gelassen. Er ist mit der Köchin des Barons verabredet, die nicht nur Köchin ist, sondern nach dem Tod der Baronin auch Ersatzfrau, wenngleich nie anerkannt. Immerhin: Sie hat sich in die Herzen der Enkel gekocht, mit süßer Crème Brulée und Tarte Charlotte. Da sieht man gern über Standesgrenzen hinweg, die sich seit der französischen Revolution kaum verändert haben, allen Reformen zum Trotz.
Wir schweigen. Ich nippe an meinem Glas Portwein und sehe mir die Ölbilder über dem Kamin an. Relikte aus einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen haben mag und der Adel, so niedrig er auch sein mochte, ein schönes Leben mit Picknicks und Bällen hatte.
„Hat Ihnen Fabien gesagt, warum ich Deutsche nicht mag?“, unterbricht der Baron die Stille. Ich kann es mir denken, verneine aber. Ich halte nichts davon, alte Geschichten auszugraben, schon gar nicht in einem Europa, dessen Grenzen verschwinden sollen. Schon meine Großeltern langweilten mich mit Erzählungen von der guten, alten Zeit, als Zwangsarbeiter aus Polen und Frankreich zu ihrem Reichtum beitrugen, ohne jemals mit am Tisch der deutschen Arbeiter essen zu dürfen. Man hatte ihnen eine Ecke in der Fabrik zugewiesen, wo sie das dürftige und geschmacksarme Kriegsessen löffelten, schweigsam und sehnsüchtig an die weiten Felder ihrer Heimat denkend, aus denen man sie ins kalte, nationalsozialistische Deutschland verschleppt hatte.

Der Baron wirft mir einen nachdenklichen Blick zu und beginnt zu erzählen: „Ich war so alt wie Fabien heute und schon verheiratet. Héloise und ich führten eine normale Ehe, wir bekamen drei Töchter, Nicole, Eliane und Maryvonne, Fabiens Mutter. Alles war normal. Bis der Krieg kam.“ Ja, denke ich, es geht doch alles wieder nur um die alte Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland. Hört das denn nie auf?
„Sie wollen meinen Enkel heiraten. Wissen Sie, was eine Ehe bedeutet? Es ist ein Versprechen auf Ewigkeit“, unterbricht er meine Gedanken, als hätte er geahnt, dass ich Kriegserinnerungen alter Menschen mit tauben Ohren ertrage. „Werden Sie das halten können?“
Schon will ich aufbrausen: Natürlich weiß ich das! Immerhin bin ich für Fabien von Berlin nach Paris gezogen, erst einmal für ein Praktikum und dann vielleicht für länger. Zugegeben, es war auch ein Gutteil Flucht vor einem abgebrochenen Studium dabei und Furcht vor der Zukunft, aber das verschwindet doch alles hinter der Liebe. Ich schweige und sage dann: „So lange ich ihn liebe, halte ich mein Verspechen.“

Der Baron lacht. Seine faltigen Wangen werden noch faltiger, die altersmilchigen Augen verschwinden in einem Geflecht feiner Linien. „Sehr diplomatisch sind Sie ja, das muss ich Ihnen lassen“, spöttelt er. So plötzlich, wie sein Heiterkeitsanfall gekommen ist, verschwindet er wieder. Jetzt sieht er nahezu wütend aus. „Mademoiselle. Ich habe Fabien gesagt, dass Sie ihn verlassen werden, nur dass Sie es wissen. Ich bin nicht einverstanden, dass Menschen aus so verschiedenen Kulturen eine Verbindung eingehen. Ich weiß, Sie glauben, ihn zu lieben. Sie wollen sich anpassen, denken, dass Sie, nur weil Sie gern Rotwein trinken und Baguette dazu essen, schon eine Französin sind. Ich sage Ihnen: Sie werden es nicht werden. Niemals.“

Erschöpft hält er inne. Ich bin ein wenig erschlagen von diesem Ausbruch. Natürlich gibt es Probleme. Wie in jeder Beziehung, wenn zwei Menschen mit ihren Macken aufeinander treffen. Fabien erträgt es zum Beispiel nicht, wenn mir andere Männer nachsehen. Einmal zettelte er sogar eine Prügelei an, nur weil mir in einem Club ein Mann ein Kompliment gemacht hatte. Ich dagegen bin Fabien manchmal unheimlich mit meinem Drang, alles allein machen zu müssen, mit meinem Perfektionismus, über den er in guten Momenten lachen kann: „Meine kleine, ordentliche Deutsche.“ Aber wir sind ein modernes Paar, hey, und wir leben im Europa der Neunziger Jahre!
Der alte Mann seufzt und zündet sich eine neue Zigarette an. Sein Jackett zieren neben Lederflicken an den Ellenbogen auch etliche Brandlöcher. Alte Menschen hängen an ihren Kleidern, egal, wie zerschlissen sie aussehen mögen. Überhaupt, hängen sie nicht manchmal zu sehr an der Vergangenheit?

„Ich erinnere mich wie heute, als ich das erste Mal nach Deutschland kam. Wir fuhren durch die Pfalz, der Krieg war schon fast vorbei, aber wir sollten dennoch als Unterstützung bei Verwaltungsaufgaben dienen. Die Pfalz ist schön. Waren Sie schon einmal dort?“ War ich, natürlich. Eine Tante, ein Onkel in Kaiserslautern, selten besucht.
Abrupt steht der Baron auf, geht zum Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand und holt ein kleines Buch heraus. Er wirft es mir in den Schoß. „Hier“, sagt er, „sehen Sie sich die Bilder an, es erklärt vieles.“ Ich schlage die vergilbten Seiten auf und betrachte die Schwarzweißaufnahmen einer längst vergangenen Zeit. Er war wirklich ein schöner Mann, im Kreis seiner Soldatengenossen. Die französischen Offiziersuniformen, damals wie heute viel schmucker als die ihrer deutschen Pendants. Der Baron schweigt.
Als ich auf der vorletzten Seite angelangt bin, fällt mir ein großformatiges Foto auf. Eine hübsche Brünette in Tweedkostüm, die Haare sorgfältig in Wellen gelegt, an seinem Arm lehnend.

„So. Das ist Marianne.“ Er seufzt leise. „Ich lernte sie in der Nähe von Heidelberg kennen. Ihr Mann war in Russland verschollen.“ - „Wir verliebten uns“, fügt er fast trotzig hinzu. „Sie konnte so wunderbar lachen, hatte unglaublich viel Humor und sprach recht gut französisch. Da habe ich meiner Frau geschrieben, dass ich nicht zurück komme zu ihr.“
Ich bin erstaunt. Das hätte ich nicht erwartet. „Und“, frage ich gespannt, „wie ging es weiter? Kam sie mit Ihnen nach Frankreich?“
„Sie sind ungeduldig, meine liebe Mademoiselle, und jung. Die Jugend hat nie Zeit, das Alter auch nicht. Nur die Gründe sind unterschiedlich. - Marianne und ich wollten nach Paris, sobald der Krieg endgültig vorbei war. Héloise schrieb mir nur einen Brief: Sie akzeptiere es, aber ich solle zusehen, dass die Töchter versorgt sind. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass sie ein Verhältnis hatte. Mit dem Gärtner.“ Und er fügt ironisch hinzu: „Es war immer der Gärtner. Aber dieser war auch besonders gut zu ihren Sprossen.“ Wir lachen beide. Den Humor hat Fabien von ihm.

„Schneller als mir lieb war, wurde ich zurück nach Frankreich beordert, ich sollte den Wiederaufbau des zerstörten Schienennetzes leiten. Marianne begleitete mich. Mittlerweile war ihr Französisch so fließend, dass man sie ohne Probleme für eine Ostfranzösin mit lothringischen Wurzeln halten konnte. Wir mieteten uns in einer kleinen Wohnung im Süden von Paris ein. Ohne Ofen und mit Außentoilette, aber mit viel Platz für uns und unsere Liebe. Die Wochenenden verbrachten wir manchmal auf dem Land, ich sah meine Töchter regelmäßig, aber meine Frau und ich wollten uns nicht scheiden lassen.“
Wie hatte Marianne das nur ertragen? Als Fremde, als Deutsche in Paris, einer beschädigten Stadt, in einem Land mit einer beschädigten Seele, ist es schwer zu leben. Im Schulunterricht hatten wir gelernt, dass Französinnen, die sich mit Deutschen eingelassen hatten, die Haare geschoren und der Verachtung frei gegeben waren. Und dann diese deutsche Frau, die einer Französin den Mann stiehlt und drei kleinen Mädchen den Vater dazu!

Der Baron beantwortet meine stummen Fragen: „Marianne fühlte sich wohl. Sie war eine optimistische und lebenslustige Frau, immer neugierig und interessiert an Literatur. Wir hatten viel Freude aneinander. Aber dann, nach einem Jahr, verschwand sie plötzlich. Ich kam abends in die Wohnung und fand nicht einmal einen Abschiedsbrief von ihr.“ Seine Stimme zittert ein wenig. Zigarettenasche fällt in kleinen, federleichten Teilen auf die Lehne. Brüsk wischt er sie weg. „Sie hat mich verlassen, weil sie ein Versprechen halten wollte, soviel ist sicher. Viel später, ich hatte mich wieder mit Héloise zusammen getan, kam ein kurzer Brief. Ich habe ihn verbrannt. Aber ich erinnere mich wie heute an den Wortlaut: ‚Mein Mann lebt. Ich kehre zurück, weil ich mein Versprechen halten will. Du hast das deine gegeben’.“ Er schnaubt: „Kitsch!“ - und hier sind ausnahmsweise einmal deutsches und französisches Wort identisch. Es klingt wie ein Hollywoodfilm. Nur, dass sich Hollywood niemals für einen Stoff interessieren würde, der nicht mit wenigstens einem Amerikaner als Helden aufwartet.
Wer wäre der Held dieser Geschichte? Marianne, die den Mut aufbrachte, mit einem Franzosen einen neuen Anfang zu wagen und ihr Heimatland zu verlassen, die aber nicht genügend Courage besaß, ihrer Liebe ins Gesicht zu sagen, dass sie ihn verlassen würde? Héloise, die eine prächtige Fassade wahren wollte, während dahinter bereits Mauern einstürzten? Oder der Baron, der Entscheidungen aus Liebe traf und doch die Falsche für die Ewigkeit?
Das ist kein Stoff, aus dem Helden gemacht sind. Es ist nur eine ganz normale Geschichte zwischen Vergangenheit und Wirtschaftswunder, zwischen Pétain und Hitler, De Gaulle und Adenauer.
„Sehen Sie, Mademoiselle, was ich mit Versprechen meine? Sie würden ihre Vergangenheit verlassen. Denken Sie über Ihre Vergangenheit nach, dann sehen Sie ihre Zukunft.“

Ich sage, dass ich verstehe, und trinke den Portwein aus. Wir plaudern noch ein wenig, bis Fabien zurückkommt. Der Baron küsst mir zum Abschied die Wange. Im Auto dreht sich Fabien zu mir und fragt: „Hat er dir schöne Geschichten erzählt? Er erfindet immer gern welche, als Kinder fanden wir seine Erzählungen spannender als Lederstrumpf-Bücher.“ Er küsst mich.
Ein Jahr später verlasse ich Paris und kehre nach Berlin zurück. Sechs weitere Monate später verlasse ich Fabien, kurz vor der Hochzeit. Ich hätte das Versprechen nicht halten können.

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Meine Hochachtung.
Kein holpern, kein stolpern, nicht mal´n Kommafehler. Mérde.
Ganz Großartig.
Aber ich glaube, es heißt "der Verachtung preisgegeben".
Oder nicht?

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Leider
kann man nicht zu Besuch beim Großvater fahren. Zum Großvater. Oder zum Besuch beim Großvater.

Und: "Fabien wollte mich vorstellen, mich, die Deutsche, die sein ältester Enkelsohn zur Frau nehmen wollte." Wie alt war denn Fabiens Enkelsohn? Etwa schon volljährig? Und wie alt war Fabien denn dann, und erst sein Grossvater?

Ich konnte nicht anders. Leider.

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Meine Herren Damen und Herren, ich bedanke mich herzlich für die Korrekturen. Ich werde mich nicht scheuen, Sie auf etwaige Fehler in Ihren eigenen Blogs aufmerksam zu machen. Wir wollen doch alle nicht dumm sterben, wo kämen wir denn da hin, PISA sei unser Motto.

Ich konnte auch nicht anders. Nix für ungut.

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Bin eine Dame. Nix für ungut.

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Meine Hochachtung. Es gehört viel Mut dazu, Erwartungen nicht zu erfüllen, obwohl das ganze Umfeld darauf eingeschossen ist.

Zu den anderen Kommentaren kann ich nur sagen: das ist hier keine Rechtschreibübung. Wenn Euch was nicht paßt, werft den Text in Word, laßt die Prüfung drüber laufen und lest erst dann - und vor allem - macht es in Euren Blogs besser!!
Btw. "merde" schreibt man ohne accent - also selber an die Nase fassen...

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Es ging nicht um Rechtschreibung.
Ich wollte auch niemanden persönlich beleidigen. Hatte halt gedacht. Ausdruck. Kritik. Anregung. Lese hier sonst mit Vergnügen. Seis drum. In Zukunft kein Klugscheissertum mehr. Sterben wir halt dumm.

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Willkommen im Club der bekennenden Klugscheißer, liebe Frau Montez (Lola, nehme ich doch an?)! Ausdruck, Kritik und Anregung sind jederzeit erwünscht, Klugscheißereien sogar sehr, immerhin haben Sie es hier mit der Mutter aller Klugscheißer zu tun. Ich bitte aber meine Leser herzlich, von so profanen Kritteleien von Rechtschreib- oder Grammatikfehlern in den Kommentaren abzusehen.

Für diesen Fall gibt es den Mailkontakt - ja, gleich links unter der 'Mail to'-Rubrik - und prompt wird Abhilfe geschaffen. Weil wir ja alle gern von Asien lernen, um siegen zu lernen, verlieren wir so auch nicht unser Gesicht. Und dann sterben wir auch nicht dumm.

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Guter Artikel, ...
... keine Frage. Ohne Wenn und Aber:
Spannende Story, anspruchsvoll in der Ansage. Guter Stil, und das blöde Gekrittel an Winzigkeiten in Grammatik und Zeichensetzung hat was von Neid und Beinpisserei, weil ALLES andere an dem Artikel einfach grundsolide ist.

Punkt.

Nur für ne Weblog-Prämierung mangels
links - Ein Weblog sollte IRGENDWIE einen Netz- Relevanz haben und
Aktualität - der ist aus den 90ern ... (?)
fragwürdig / ungeeignet.
Dennoch. Wegen der guten Geschichte
verlinkt

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Danke. Frau Modestes Wettbewerb bezog sich gluecklicherweise nicht auf irgendeine Relevanz zum Netz sondern sollte einzig und allein ihrer Erbauung dienen.

Und: Fruehe Neunziger, ja. Da gab's Blogs noch nicht.

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