1.146 Km Heimat.

Heimat sei kein Ort, sondern ein Zustand im Kopf, sagt Fatih Akin. Also verfrachte ich meinen Kopf mitsamt Anhang zur Familie, die sich nach ihrem endgültigen Zerfall in kleine Fragmente über ganz Hessen verteilt. Ich fahre über weite, gerade ergrünende Felder, durch noch kahle Wälder an Orten vorbei, die auf -hausen, -berg, -hain oder -rod enden und so sauber sind, als würden sie sich alle für den Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ bereit machen. Fachwerkhäuser, viele mit Hof, alle mit Rüschengardinen und mindestens einem Alpenveilchen im Fenster.
Wahrscheinlich essen sie hinter den Gardinen gerade Bratwurst mit Blumenkohl in einer fettigen Sauce. Danach gibt es ein Mittagsschläfchen: Vati auf dem Sofa in der guten Stube, während Mutti hinter verschlossener Küchentüre abwäscht, damit er nicht gestört wird. Die Kinder sind schon lange aus dem Haus und arbeiten in der Großstadt. Nicht mal am Wochenende haben sie Zeit, die Eltern zu besuchen. Aber Weihnachten, dann. Allerspätestens.

So selten, sagt sie. Es gibt Kaffee, aufgewärmt und ein Glas Wasser. Lange kann ich nicht bleiben, es warten noch andere auf meine Besuche, ich werde nicht hier übernachten, es gibt ohnehin kein Zimmer mehr für mich, weil ich nie hier gewohnt habe. Ein Wochenende ist kurz, wenn man viele Bedürfnisse befriedigen muss. Sie sitzt auf dem Sofa, hat sich extra schick gemacht: Rosa T-Shirt und Jeans, eine passende Strickjacke. Schlohweiße Haare, ein wenig zerzaust, der Lippenstift ist etwas über das Lippenrot gerutscht. Die Hände sind nicht mehr so sicher, zittern unablässig, wenn sie nicht gerade eine Waschbewegung macht - ohne Wasser. Denn Wasser ist in diesem Haushalt in den letzen Jahren rar geworden, Hochprozentiges dagegen immer vorhanden.
Ich zeige ihr die Fotos meiner Indienreise. Allein durch Indien, das könnte ich nie, sagt sie, und für einen kurzen Moment wird ihr Blick klar. Können hat auch immer etwas mit Wollen zu tun, denke ich und daran, dass sie so fast immer bekommen hat, was sie wollte.
„Bist du wirklich meine Tochter?“, fragt sie unvermittelt, als das letzte Foto angesehen, die letzte Geschichte erzählt ist. Das habe ich mich oft gefragt. „Du bist so anders als ich“, fügt sie hinzu. Ich weiß, was jetzt kommt. Er kommt wieder ins Spiel. Er, der sie allein gelassen hat, um eine Reise nach Marokko zu machen, sein Traumland, in das sie nie mitwollte. Ich sei wie er. Bin ich das wirklich? Sie schimpft eine Weile über ihn und über den letzten Ehemann, dann wird sie ruhig. Die Zeit der Wutanfälle und Ausbrüche ist vorbei, das ist das einzig Gute am Verlauf dieser Krankheit.
Es bleibt nur, abzuwarten. Auf den Tag, an dem nichts mehr geht. Das ist nicht einfach. Man möchte für jemand Anderen kämpfen und kann doch nichts tun. Die Kraft fehlt, auch die Kraft, zu bleiben, das nächtliche Herumgetapere zu ertragen, das Aufschrecken, wenn sie ans Bett kommt „um zu sehen, ob du schon wach bist“ - um vier Uhr früh.

Nach einigen Stunden fahre ich eine Ortschaft weiter, zum väterlichen Ratgeber. Wir gehen essen, er erzählt mir von seiner neuen Freundin. Eine Frau, die ganz im Leben steht. Zehn Jahre älter als er, Apothekerin. Auf dem Foto eine über das ganze Gesicht lachende Frau, etwas rundlich, die resolut den Wanderstock aufstützt. Er sei glücklicher als in den letzten fünfzehn Jahren zuvor. Ich freue mich für ihn. Man hat nicht oft das Glück, jemanden zu finden, mit dem Glück möglich ist. Die Scheidung war für ihn eine Erlösung. Für die Frau, die ein paar Kilometer entfernt im Halbdunklen vor dem Fernseher sitzt, eine Flasche in der Hand, gibt es wohl keine Erlösung.
„Du bist mir wie eine Tochter“, sagt er. Er ist für mich wie ein Vater, obwohl ich ihn nie so genannt habe. Zum Abschied steckt er mir Geld zu: Für deinen nächsten Urlaub, ich bin stolz auf dich, sagt er, mach weiter so. Ich fahre ins Hotel und schlafe traumlos.

Am nächsten Tag spule ich noch einmal hundert Kilometer ab. Die mittelgroße Stadt am Fluss, wo ich aufgewachsen bin, hat sich nicht verändert. Es ist eine Stadt, wo Schnauzbärte keine Modeerscheinung sind sondern zum Mann dazugehören wie der wöchentliche Friseurtermin mit Waschen, Schneiden, Legen zu den Frauen. Es fällt auf, dass der Putz überall ein wenig mehr blättert als beim letzten Besuch.
Heute ist ein besonderer Tag, ich bin in die Villa eingeladen. Er holt mich am Tor ab. „Bist du gewachsen oder bin ich geschrumpft“, fragt er zur Begrüßung und lächelt. Ich bleibe ihm eine Antwort schuldig, erschrocken. Vor einem Jahr haben wir uns zuletzt gesehen, aber seitdem ist er ein Jahrzehnt gealtert. Ich werde von den Orgelpfeifen mit Handschlag begrüßt und lache insgeheim über die Ähnlichkeit zwischen meinem Halbbruder und mir. Wir haben die gleiche Ohrform, mit der wir beide nicht ganz glücklich sind. Die beiden Mädchen sind hübsch aber ein wenig breit und werden sicher ihrer Mutter nachgeraten, ein Jammer.

Wir sitzen im Salon, wo früher meine Großmutter auf dem Biedermeiersofa residierte und mir den ersten Campari Orange meines Lebens anbot. Man kann von dort den Fluss überblicken, das Grundstück ging früher bis ans Wasser, wo im Sommer die Binnenschiffer ihre Schuten an riesigen Pollern vertäuten. Viele Holländer, immer freundlich, oft mit ihren blonden, sonnenverbrannten Frauen, die mir ein Glas Limonade anboten, der kleinen Rotzgöre mit den Rattenzöpfen, der der fremdländische Dialekt ihrer Stimmen verheißungsvoll nach Abenteuer klang.

Nach dem Essen möchte er die Fotos aus Indien sehen. Er erzählt von seinen Reisen, die er allesamt in den kurzen Jahren zwischen der Scheidung und der zweiten Heirat machte. Kenia, Russland, Argentinien. Wir lachen und tauschen Reiseerfahrungen aus. Wasser kann man nicht überall trinken, Alkohol schon, sagt er und erntet einen strafenden Blick von seiner Frau, die sich bewundernswert freundlich zeigt. A propos, wie geht es ihr, fragt er. Seine Frau verschwindet in die Küche, will von der Ersten nichts hören, der Schönheit, die immer wie ein Phantom im Hintergrund weiter mit ihm verheiratet war.
Wir sehen die letzten Fotos an. „Du bist schon sehr meine Tochter“, sagt er und es klingt ein bisschen stolz. Als wir uns verabschieden, ist sein Mund ganz schmal, wie immer, wenn er seine Gefühle nicht zeigen will. Besuch mich doch mal, sage ich. Meine Heimat ist auch schön.

Ich finde, Fatih Akin hat Unrecht. Heimat ist ein Ort im Herzen, und ein ganz kleines Stückchen Heimat ist überall dort, wo die leben, die einem wichtig sind. Auch wenn ich 1.146 Kilometer fahren muss, um alle Fragmente Heimat aufzusammeln.

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Ein schöner Text!
Würde gern einen Ausschnitt davon in mein Blogg übernehmen, klarerweise mit Angabe deines Bloggs. Ist das für dich okay? Und soll ich als Autorin Wortschnittchen nennen oder willst du einen anderen Namen angeben?

Grüsse!
http://feuerqualle.blogg.de
feuerqualle@gmx.at

PS. Falls du beim Weltenbummeln in Wien vorbeikommst, melde dich...

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Schön.

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