Schwerin liegt auf dem Weg nach Philadelphia.
In gleichmäßigen Abständen erschallt das ‚Padong, Padong’ der Autobahn-Asphaltplatten. Die raureifüberzogene Landschaft zieht an mir vorüber. Dann und wann liegen die verlassenen Gebäude einer LPG wie Inseln in den weiten Meeren der winterlichen Felder. Der Himmel ist silbergraufarben, und die Sonne lugt zwischen Hochnebelfelder hervor. Es ist ein Januartag im Jahr 1991, halb acht Uhr morgens, und einzig zwei Tassen starken Kaffees aus der Thermoskanne halten mich wach. Ich bin auf dem Weg nach Schwerin, wo ich für die Wirtschaftskanzlei Grundbucheinsichten machen muss. Zwei Flurstücke sind es, mit einem Haus aus den zwanziger Jahren. Ein Seegrundstück, soviel weiß die vermutliche Eigentümerin, denn das haben ihr die Eltern erzählt.
Mrs Frenkel, geborene Mendelsohn, hat einen starken amerikanischen Akzent, aber sie wählt die Worte in der lange vergessenen Muttersprache sorgfältig als wir telefonieren: „Miss Wortschnittchen, es würde mich so sehr freuen, wenn Sie mir einige Fotos schicken könnten. Ich habe nur wenige Bilder von meinen Eltern, denn wir haben damals nur einen Koffer mitnehmen können.“ Damals, das war zu Zeiten des Naziregimes, und nach den Nürnberger Rassegesetzen befand sich die gesamte Familie Mendelsohn in einer sehr unsicheren Situation. Vater Mendelsohn, ein wohlhabender Anwalt mit einer großzügigen Stadtwohnung in Berlin und einem Landhaus am See in der Nähe von Schwerin, durfte seinen Beruf nicht mehr ausüben, die Einnahmen schwanden. Er traf eine Entscheidung, die ihm, seiner Frau und der fünfzehnjährigen Irene, der späteren Mrs Frenkel, das Leben retten sollte. Mit einem Koffer, in den nur wenige persönliche Andenken passen sollten, reisten sie über viele Wege in die USA aus. Haus, Wohnung und sämtlicher Hausrat sowie viele Freunde blieben zurück in Deutschland. Die meisten würden sie nie wiedersehen.
Schwerin taucht auf, das Schloss ist eine Trutzburg, Bollwerk gegen alle Einflüsse von außen, aber trotzdem repräsentativ und elegant. Nur die Moritzburg bei Dresden schafft mit ihrer Ebenmäßigkeit ein ähnliches Bild romantisierender Burgschlösser. Das Grundbuchamt ist deutlich weniger spektakulär untergebracht. In den grauen Fluren riecht es wie immer nach Amts- und sonstigem Schimmel, die Mitarbeiter sind farblos und meistens unfreundlich, in Ost wie in West.
Ich gebe Einsichtsersuchen und Vollmacht ab und klappe den tragbaren Kopierer auf. Keine fünf Minuten später kommt die Grundbuchbeamtin damit zurück: „Wir können das Flurstück gar nicht finden. Gucken Sie mal die Postleitzahl an. Das muss irgendwo in der Nähe von Berlin liegen.“ Ich gucke und tatsächlich!, ich habe mich in der Gegend geirrt. Ein Blick auf die eilig herbeigebrachte Landkarte beweist: Schwerin liegt in der Nähe von Philadelphia. Philadelphia ist ein Nachbarort von Neu Boston. Und alle drei Orte liegen in Brandenburg, in der seenreichen Umgebung Berlins. Na, toll.
Es ist mittlerweile halb elf, zu spät, um noch in das für Schwerin (Brandenburg) zuständige Grundbuchamt zu fahren und dort Einsicht zu nehmen. Aber Fotos kann ich ja machen, denke ich. Also mache ich mich auf den Weg von Schwerin nach Schwerin.
Die Wintersonne bricht harte, lange Schatten, als ich mittags am Schweriner See ankomme. Das Haus von Mrs Frenkels Eltern ist grau, ein typisches DDR-Grau von zu vielen Braunkohleöfen und schwacher Pigmentierung der selten zu erhaltenden Fassadenfarbe. Aber es liegt an einem schilfbestandenen Seeufer und hat einen schönen, altmodischen Wintergarten. Ich schleiche auf dem Grundstück herum und fotografiere, bis mich der derzeitige Hausbewohner entdeckt und schreit: „Jehn se von meim Grundstück! Se ham hier nüscht ze suchen!“ Ich habe alle Fotos im Kasten und diskutieren will ich nicht, bevor ich im Grundbuchamt die tatsächlichen Besitzverhältnisse herausgefunden habe.
Zwei Wochen später ruft Mrs Frenkel an. „Miss Wortschnittchen, vielen Dank für die Fotos. Das sieht alles genauso aus wie damals! Ich komme dann nächsten Monat aus Boston und sehe es mir selbst an. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich begleiten.“ Ich sage zu. Wann kommt man schon einmal in die Verlegenheit, eine Bostonerin über Neu Boston und Philadelphia nach Schwerin zu bringen? Weltreisen wie Zeitreisen, denke ich, fangen manchmal mit Ortsnamen an.
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